Die Gebeine sprechen zu ihr
Mit dem Dolmengrab verfügt die Gemeinde Oberbipp über eine echte Sensation. Sandra Lösch leitete vor fünf Jahren die Ausgrabung der rund 40 Skelette. Noch heute entnimmt sie den über 5000-jährigen Knochen viele Informationen.
«Es handelt sich tatsächlich um einen Sensationsfund, in der Schweiz gibt es bisher nichts Vergleichbares», sagt Sandra Lösch. 2011 entdeckt, wurde der Dolmen von Oberbipp auf die Jahre um 3300 vor Christus datiert. Gut versteckt und durch eine Sedimentschicht geschützt, überdauerte er die Jahrtausende. Es handelt sich damit um das älteste Dolmengrab, das in der Schweiz je entdeckt wurde. «Zum Glück hat die Familie vor sechs Jahren über den Fund informiert», so die Anthropologin. Dies sei keine Selbstverständlichkeit.
Noch bis vor wenigen Jahrzehnten seien archäologische Funde allzu oft ignoriert und gar komplett zerstört worden.Sandra Lösch ist Leiterin Anthropologie der Universität Bern und war verantwortlich für die Ausgrabungen der menschlichen Überreste im Dolmen. Ein grosser Ordner, angeschrieben mit «Oberbipp», zeugt von ihrer Tätigkeit im Oberaargau. Denn die aussergewöhnlichen Fundstücke des Dolmengrabs werden nicht in ihrem Berner Büro, sondern fein säuberlich und beschriftet im Labor aufbewahrt.
Öffentlichkeit ferngehalten
Nachdem die Meldung beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern vor sechs Jahren eingegangen war, ging es Schlag auf Schlag. Die Fundstelle wurde abgesperrt und von der Öffentlichkeit abgeschirmt. «Normalerweise laden wir die Bevölkerung bei Ausgrabungen ein, damit die Leute verstehen, weshalb ein ganzer Landabschnitt abgesperrt werden muss», erklärt Sandra Lösch. Dies sei in Oberbipp wegen des Seltenheitswerts des Fundes nicht möglich gewesen. Bereits kleinste Speicheltropfen von Besuchern hätten die über 5000-jährigen Knochen verunreinigen können. Die Behörden und Bewohner von Oberbipp hätten Verständnis für die Ausnahmesituation aufgebracht, sagt Lösch.
Auch die Mitarbeiter des Archäologischen Dienstes waren gefordert: Sie mussten stets Handschuhe und einen Mundschutz tragen.
Schicht für Schicht
All die Unannehmlichkeiten haben sich gelohnt: Schicht für Schicht beförderten die Forscher 2012 unter dem 7,5 Tonnen schweren Deckstein Skelette und Grabbeilagen wie Pfeilspitzen und Kettenanhänger aus Tierzähnen ans Tageslicht. Anhand der Fragmente konnten 31 Schädel gezählt werden. «Die Proben fürs Labor haben wir sofort abgepackt und eingefroren, ansonsten wäre viel Potenzial verloren gegangen», sagt Lösch. Jede Schicht des Dolmens wurde mit einem teuren und sensiblen Gerät 3-D-gescannt. «Das hat uns viel Arbeit erspart, andernfalls hätten wir jeden Knochen einzeln einmessen und zeichnen müssen.»
Die Überreste befinden sich mittlerweile in diversen Labors, über halb Europa verstreut. Denn der Sensationsfund aus Oberbipp hat über die Schweizer Grenzen hinaus für Furore gesorgt. Sogar in Oxford werden Teile des Dolmengrabes untersucht. 2014 stellte Sandra Lösch einen Antrag zur finanziellen Unterstützung der Untersuchungen beim Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Dieser subventioniert das Forschungsprojekt seither mit insgesamt 285 000 Franken.
Im Labor wurde anhand der Oberschenkelknochen deutlich, dass noch mehr als die zunächst vermuteten 31 Menschen ihre letzte Ruhe im Oberbipper Dolmen fanden. Mittlerweile gehen Lösch und ihr Team von mindestens 40 Bestatteten aus. Aufgrund der gut erhaltenen Fragmente kann im Labor gar das Sterbealter der Toten bestimmt werden. So gelangten die Forscher zur Erkenntnis, dass viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von sieben bis zwanzig Jahren begraben wurden. «Wir suchen noch nach Erklärungen, warum so viele junge Menschen in Oberbipp bestattet worden sind. Eine Möglichkeit wäre eine örtliche Epidemie», sagt Sandra Lösch. Dieser Frage gehe nun eine Studentin in ihrer Doktorarbeit nach.
«Wir suchen noch nach Erklärungen, warum so viele junge Menschen in Oberbipp bestattet worden sind. Eine Möglichkeit wäre eine örtliche Epidemie.»
Keine Gewalt
Fest steht, dass 3300 vor Christus die Menschen im heutigen Oberaargau bereits sesshaft waren und Ackerbau sowie Viehzucht betrieben. Anhand der Skelette wollen Sandra Lösch und ihr Team nun die weiteren Lebensbedingungen in jener Zeit erforschen. So können die Knochenfragmente auf Krankheitserreger oder Verletzungen untersucht werden. In diesem Zusammenhang stellt sich laut Lösch die Frage, ob die gefundenen Pfeilspitzen tatsächlich Grabbeigaben oder andernfalls nach kriegerischen Auseinandersetzungen in den Körpern steckend den Weg in den Dolmen fanden. «Wir gehen jedoch von keiner grossen Gewalteinwirkung aus», relativiert die Abteilungsleiterin. Denn die Menschen seien damals friedliche Landwirte gewesen und hätten nicht ständig gekämpft.
Auch über die Ernährung wollen die Forscher Genaueres in Erfahrung bringen. Etwa, ob die damaligen Oberbipper bereits Milch verdauen konnten oder noch laktoseintolerant waren. «Der Mensch konnte ursprünglich keine tierische Milch verdauen, dies änderte sich mit der Viehzucht», erklärt die Anthropologin.
Der Dolmen mag in der Nähe des Oberbipper Friedhofes seine letzte Ruhe gefunden haben, die Arbeiten an dessen Skeletten sind indes noch längst nicht abgeschlossen. Zu viele Fragen sind noch offen, die dank des Sensationsfundes möglicherweise beantwortet werden können.
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