«Das Zeitalter ist aufgeklärt – woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?», fragte Schiller einst in «Über die ästhetische Erziehung des Menschen». Die Brutalität der Französischen Revolution hatte ihn zweifeln lassen an der Allmacht der Vernunft – und vor allem an ihrer Diktatur. Tausende Franzosen hatten ihr Leben unter der Guillotine verloren. Als Schiller 1805 starb, stand das Schlimmste noch bevor. Der Untergang der Grande Armée in Russland, der antifranzösische Partisanenkrieg in Spanien: Das alles war für die an die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts gewöhnten Europäer ein traumatischer Schock. Voltaire war, knapp 50 Jahre vor Schiller, an einem Erdbeben in Lissabon verzweifelt. Das frühe 19. Jahrhundert musste sich an den menschengemachten Untergang von Millionen gewöhnen.
Die auf Napoleon folgende Epoche war deshalb eine der Restauration: ein Zeitalter der grossartigen, auch gewalttätigen Ideen, die aber nicht umgesetzt wurden. Während die jungen europäischen Männer ihre napoleonischen Triebe in den Kolonien abreagierten und ganze Völker ausradierten, sollte es auf dem Alten Kontinent selbst zwei ganze Generationen dauern, bis es wieder als kommun galt, die kriegerische Durchsetzung einer Weltanschauung in Betracht zu ziehen. Folgerichtig war die darauf folgende erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder eine Epoche der Gewalt.
«Zwei Generationen später wurde den Adligen, mit denen Voltaire geschliffene Dialoge geführt hatte, der Kopf abgeschlagen»
Was mich an alldem immer fasziniert hat, ist die Arbeitsteilung der Generationen. Es ist, als würden die Ideen, die von der einen Generation entwickelt werden, um Gewalt zu verhindern, eine oder zwei Generationen später zu deren Anlass. Voltaire hatte sich unter «Aufklärung» vorgestellt, dass alles so weitergehen würde wie bisher, nur gerechter, klüger, weniger barbarisch. Zwei Generationen später wurde den Adligen, mit denen Voltaire geschliffene Dialoge geführt hatte, der Kopf abgeschlagen.
Adorno nannte es die «Dialektik der Aufklärung»: die Tatsache, dass jene Mittel, die zur Überwindung der chaotischen Natur in uns drin und um ums herum geschaffen wurden, sich am Ende gegen den Schöpfer selbst wenden. Der Neoliberalismus, um die Krisenideologie unserer Zeit zu benennen, entspringt einem antitotalitären, sehr vernünftigen Gedanken: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Nun aber, bald 60 Jahre nach Hayeks «Verfassung der Freiheit», zeigt auch diese Vernunft ihre finstere Seite. Das globale Proletariat macht sich auf nach Europa, um seinen Anteil am Glück einzufordern – nur um von uns aufgeklärten Barbaren im Mittelmeer ertränkt zu werden. Denn für alle Menschen reicht die Freiheit nicht.
Immer einmal mehr aufstehen als hinfallen, lautet das Diktum des Komikers Hallervorden. Und vielleicht ist das ja die einzige Ideologie des aufrecht gehenden Affen: Try again, fail again, but fail better. Was nur dann schwierig ist, wenn man tot ist.
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Die finstere Seite der Vernunft
Die wiederkehrenden Epochen der Gewalt. Eine Kolumne von Milo Rau.