Bayern-Trainer Thomas Tuchel«Die DNA ist klar definiert: Es geht ums Gewinnen»
Nach dem Ende von Julian Nagelsmann soll Thomas Tuchel die Bayern zu Titeln führen. Beim ersten Auftritt redet der neue Trainer so klar, dass selbst Oliver Kahn entspannt ist.

Als Thomas Tuchel am Dienstag einen Anruf erhält, fragt er: «Was willst du?» Hasan Salihamidzic entgegnet: «Wenn du keinen Bock hast, leg auf!» Dreissig Sekunden braucht Tuchel, bis bei ihm «der Groschen fällt» und er realisiert, was der Sportvorstand des FC Bayern München von ihm will.
Am späten Donnerstagabend unterschreibt Tuchel einen Vertrag, der ihn bis 2025 an die Bayern bindet. Und als er am Samstagmittag von diesen ereignisreichen Tagen berichtet, ist ihm eines offensichtlich ein Anliegen: von der Ehre und Auszeichnung zu reden, wenn sich Bayern meldet. «Wenn man an die Säbener Strasse fährt, merkt man: Das ist einer der grössten Clubs in Europa und damit in der Welt. Die DNA ist klar definiert: Es geht ums Gewinnen.»
Darum sitzt er an diesem Tag auf dem Podium, flankiert von Oliver Kahn, dem Vorstandsvorsitzenden, und von Salihamidzic, künftig seinem wichtigsten Ansprechpartner. Bayern hat in letzter Zeit nicht mehr genug gewonnen, und darum haben es die Bosse, so werden die Verantwortlichen in München seit jeher genannt, mit der Angst bekommen, sie könnten diese Saison auf einmal ohne Titel dastehen: in der Champions League, in der Meisterschaft und selbst im Cup.
Eigentlich hatten sie nach aussen hin nie Zweifel aufkommen lassen an Julian Nagelsmann. Bezeichnend war, was Salihamidzic noch im Februar, nach einer Niederlage in Mönchengladbach zum Thema sagte: «Alle Diskussionen sind unnötig. Ich wünsche mir, dass man unseren Trainer in Ruhe arbeiten lässt! Julian ist ein Langzeitprojekt.»
Dann kam dieser vergangene Sonntagabend, kam dieser schrecklich schlechte und blutleere Auftritt in Leverkusen, kam dieses 1:2, das zum Erweckungserlebnis wurde. «Bis 23 Uhr», so Salihamidzic, glaubten die Verantwortlichen, es mit Nagelsmann als Trainer richten zu können. Aber dann war ihnen bewusst, dass sie um diese eine zentrale Frage nicht mehr herumkamen: «Wo kommt das her, dass es so grossen Schwankungen gibt?» So formuliert es Kahn, als er am Samstag die Freistellung von Nagelsmann erklären muss.
Die Schwankungen sind seit der WM besonders offensichtlich, Bayern setzt sich in der Champions League zwar souverän gegen Paris St-Germain durch, aber im Alltag, im Butter-und-Brot-Geschäft, schwächeln sie und gewinnen nur fünf von zehn Spielen – und selbst die auf eine Art, die den Bossen zu denken gibt. Innerhalb weniger Wochen verlieren sie zehn Punkte auf Dortmund und fallen auf Platz 2 zurück.
«Wir haben einen der besten Kader in Europa. Und trotzdem ist die Leistungskontinuität der Mannschaft nicht besser geworden.»
Was bei der Bewertung der Arbeit von Nagelsmann allerdings erst recht dazu kam: Die Schwankungen gab es nicht erst in diesem Jahr, sie gab es schon seit zwölf Monaten. In dieser Zeit haben die Bayern in der Liga nur 57 Prozent ihrer Spiele für sich entschieden, 20 von 35. Was für viele andere ein Spitzenwert wäre, ist für Kahn und Kollegen nicht akzeptabel. Und schwer auf der Seele liegt ihnen noch heute das Ausscheiden im letztjährigen Viertelfinal der Champions League gegen Villarreal.
Für sie war das gar unwürdig angesichts dieses Gegners. Schliesslich nahmen sie für sich in Anspruch, ein Topkader zu haben. Sie reagierten im Sommer und verstärkten es nochmals, zumindest aus ihrer Sicht, obschon der 40-Tore-Stürmer Robert Lewandowski nach Barcelona entschwunden war. «Wir haben eines der besten Kader in Europa», stellt Kahn jetzt fest. «Und trotzdem ist die Leistungskontinuität der Mannschaft nicht besser geworden.»
Das umständliche Wortgebilde steht dafür, dass es unter Nagelsmann keine Entwicklung gegeben hat. Während der Trainer gleichzeitig immer dünnhäutiger auf Kritik reagierte. Während er einst die Sprüche noch locker aus dem Ärmel schüttelte, immer bedacht auf eine Pointe, wurde er mit der Zeit immer böser – bis hin zum Angriff auf die Schiedsrichter, die er als «weichgespültes Pack» bezeichnete.
Nagelsmann war ein paar Tage vor seinem 34. Geburtstag gewesen, als er im Sommer 2021 in München für fünf Jahre unterschreiben durfte. Er war dieser frühreife Trainer, der mit 28 Hoffenheim übernahm und von einem Abstiegsplatz in die Champions League führte, der darauf Leipzig in den Halbfinal der Champions League führte und in München eben zum Langzeitprojekt befördert wurde.
Zum Einstand schenkte ihm die Führung Bayern-Bettwäsche, weil er als kleiner Bub vom bayerischen Land in solcher Bettwäsche geschlafen hatte. Das gab kitschige Bilder her. Später fuhr Nagelsmann mit dem Skateboard auf dem Trainingsgelände an der Säbener Strasse herum. Oder er kam auf der Harley zur Arbeit, immer bedacht darauf, das jugendliche Image zu pflegen. Oder er kleidete sich gerne so bunt, dass die «Süddeutsche Zeitung» jetzt einen Vergleich zwischen seinem Kleidungs- und dem Spielstil der Mannschaft herleitet. Vielleicht weit hergeholt, vielleicht auch nicht: Die «Süddeutsche» jedenfalls findet: Äusserlichkeiten waren Nagelsmann immer wichtig und standen für die Sprunghaftigkeit in den Leistungen der Spieler.
Was viele an Bayern abstösst, fasziniert Tuchel
Was bei diesen Spielern offensichtlich gar nicht gut ankam, war Nagelsmanns private Beziehung zu einer Reporterin der «Bild»-Zeitung. Bevor er mit ihr zusammenkam, hatte sie über Bayern berichtet. Der Argwohn im Spielerkreis wuchs, dass das, was sie intern sagten, am nächsten Tag im Boulevardblatt ausgebreitet wird. Er trug dazu bei, dass sie und ihr Chef immer weniger zusammenfanden.
Die Verantwortlichen betonen nun, sie hätten sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. «Wir haben natürlich die Pflicht, für sportliche Erfolge zu sorgen», sagt Kahn. Nach diesem Grundsatz haben die Bayern immer gehandelt und sind genau deshalb zu diesem gefrässigen Monster geworden.
Das stösst die einen ab. Und fasziniert andere, Leute wie Thomas Tuchel, diesen hageren, hoch aufgeschossenen Trainer von 49 Jahren und grossem Renommee. Auch er ist sehr jung Trainer geworden, nachdem eine Knorpelverletzung das frühe Ende seiner Spielerlaufbahn bedeutet hatte. Mit 27 stieg er bei der Jugend des VfB Stuttgart ein und arbeitete sich, Schritt für Schritt, nach oben. Mainz war sein erster Club in der Bundesliga. 2015 scheute er nicht die Herausforderung, in Dortmund die Nachfolge von Jürgen Klopp anzutreten. Er galt als verkopft und verbot den Spielern Sauce an der Pasta, worauf ein Restaurant in Dortmund reagierte und Penne à la Tuchel kreierte: aus Vollkornnudeln und mit Gemüse.
Mit jeder Minute neben Tuchel wird Kahn entspannter
In Paris und in London bei Chelsea hat Tuchel die Erfahrung gemacht, wie das Arbeiten mit komplizierten Spielern und Vereinen ist, wie sich eine Entlassung anfühlt, so wie zuletzt vor einem halben Jahr in London. Auf dem Podium in München sitzt ein Tuchel, der über die Jahre entspannter geworden ist. Er erledigt seinen ersten offiziellen Termin am neuen Ort mit viel Charme und immer mit einem feinen Lächeln auf dem Gesicht, so, als könnte er es nicht fassen, jetzt bei diesem Club arbeiten zu dürfen. 2017 und 2018 hatte er schon Kontakt mit den Bayern gehabt, beide Male passte etwas nicht.
Jetzt erzählt er von der Vorfreude ebenso wie von der Verpflichtung, Erfolg zu haben. Er spürt den Druck, aber genau ihn sucht ein Trainer seines Kalibers. Mit jeder Minute, die er redet, werden die Gesichtszüge von Kahn entspannter. Als würde er spüren, dass neben ihm der Mann sitzt, der sie mit Siegen in ihrer Meinung bestätigen kann, das beste Bayern-Kader aller Zeiten zusammengestellt zu haben. Und der diese Titel gewinnt, die sie unbedingt wollen.
Am Montag leitet Tuchel das erste Training, wobei kaum ein Spieler da sein wird, weil viele bei ihren Nationalteams sind. Am Freitag kann er einmal vernünftig mit der ganzen Mannschaft arbeiten. Dann geht es heftig los. Innerhalb von zehn Tagen heissen die Gegner: Dortmund, zweimal Freiburg, davon einmal im Cup-Viertelfinal, und Manchester City in der Champions League. «Ich liebe den Stress», sagt Tuchel.
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