Die Chemie stimmt
Direkt statt durch die Blume: Konzert Theater Bern zeigt «Kinder der Sonne» von Maxim Gorki. Konsequent ins Heute gezerrt vom deutschen Regiejungspund Kieran Joel.

Irgendwann kommt sie, die Erleuchtung: «Wir sind die Kinder der Sonne!», ruft Jelena (Florentine Krafft). Der Freudentaumel ist gross nach der Selbsterkenntnis in der Gruppe von Privilegierten, die da einen Theaterabend lang selbstgefällig vor sich hindümpelt.
Chemie-Nerd Pawel (Alexander Maria Schmidt) schreibt schöne Formeln an die Wand, Künstler Dimitri (Jilian Koechlin) pinselt ein Bild der Zuversicht und Lisa (Florentine Krafft) trägt ein schöngeistiges Gedicht vor. Die Welt ist gut, und die Menschheit auf dem Weg zur Freiheit, zur Schönheit und zur absoluten Glückseligkeit.
Die Realität scheppert
Wäre da nicht die harte Realität in der Person von Handwerker Jegor (Stéphane Maeder). Und diese Realität tritt drei-, viermal mit lautem Scheppern auf. Jegor schlägt seine Frau, die offenbar an Cholera erkrankt ist. Er kann sich nur ausdrücken, wenn er betrunken ist. Die hässliche Fratze kontrastiert mit dem Kammerspiel der anderen, die in ihrer bildungsbürgerlichen Blase mit sich selbst beschäftigt sind.
«Kinder der Sonne» spielt in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das war zumindest die Idee von Maxim Gorki. Er zeigte eine Oberschicht, die nicht mitkriegt, was sich draussen anbahnt – und das war nichts weniger als eine Revolution.
Der 33-jährige deutsche Regisseur Kieran Joel zieht den Stoff ins Heute: An der Stelle der zaristischen Oberschicht steht das aufgeklärte Bildungsbürgertum. Dieses sieht sich mit einem Phänomen konfrontiert, das es nicht versteht: Die Rechtspopulisten Europas halten Rassismus wieder für eine Meinung – und sprechen damit die Unzufriedenen an, die Verlierer der globalisierten Weltwirtschaft. Ausgesprochen ist das nicht, bloss angedeutet.
Für die Unzufriedenen steht Jegor. Die Bildungsbürger geben vor, seine Sorgen zu verstehen – fahren ihm aber im Chor über den Mund. «Man schlägt seine Frau nicht!», bläst es ihm dutzendfach um die Ohren. Es sind indiskutable Ansichten. Die Gruppe will gar nicht erst wissen, was dahintersteckt.
Alles klar
Joels Adaption ist konsequent, und dementsprechend tief ist der Eingriff in die Vorlage. Während bei Gorki alle um den heissen Brei herum reden, sprechen sie hier Klartext. Statt subtil ist das plakativ, statt durch die Blume gesäuselt wird laut gestritten. «Ich bin ein gemeines Luder. Kümmere dich um mich», sagt Melania (Chantal Le Moign), nachdem sie dem begriffsstutzigen Pawel ihre Liebe gestanden hat.
Die Figuren auf der Bühne verstricken sich zwischen ihren Selbstgefälligkeiten zusehens in komplizierte Liebessehnsüchte. «Lass uns gute Freunde sein» – «Leck mich am Arsch!».
Oder: «Zwischen uns wird das auch nichts mehr, ja?» So spricht man kaum miteinander. Aber die bisweilen formelhaften Sätze sind so gut aneinandergereiht und stark und mit Witz vorgetragen, dass das Stück Zug hat bis zum – blutigen – Schluss. Dem Ensemble sei dank. Es legt eine höchst erfreuliche Leistung hin.
«Kinder der Sonner»: bis 7. Juni, Vidmar 1, Liebefeld.
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