Deutschland, plötzlich Liebling
Berührend, wie offen Flüchtlinge in München empfangen werden. Wie die Weltpresse Deutschland mit Lob überhäuft – und das einigen gar nicht gefällt.

Deutschland, das ist das neue Land der guten Menschen, und die amerikanischen Medien erzählen ausgiebig von ihnen. Beispielsweise von Silvia Reinschmiedt, die am Münchner Hauptbahnhof Migranten vor allem aus Syrien mit Heissgetränken empfängt. «Ich habe mir gesagt, ich muss etwas tun», zitiert die «New York Times» die Leiterin einer örtlichen Schule. Sie steht neben anderen Freiwilligen, die mit Lebensmitteln, Kinderspielzeug oder zumindest herzlichem Applaus aufwarten, als rund 450 Menschen aus einem Sonderzug aus Österreich aussteigen.
Die «Washington Post» beobachtet, wie der Syrer Abed Almoen Alalie, seine Frau und die fünf kleinen Kinder sich an den Händen halten und ungläubig blinzeln, als sie die grosse Zahl von Deutschen sehen, die sie mit Essen, Luftballons und selbst gebackenem Blaubeer-Streuselkuchen empfangen. Das «Wall Street Journal» hat den 18-jährigen Somalier Farhan Yassin getroffen, der bereits vor einem halben Jahr in München ankam. Auf seinem weiten Weg nach Europa brach Yassin sich ein Bein, schlief in Italien drei Monate lang auf der Strasse und erreichte endlich die bayerische Hauptstadt. Dort bekam er sofort Unterkunft, Verpflegung, ein Ticket für den Nahverkehr und eine Behandlung im Krankenhaus. «Sie haben mein Bein geschient und gaben mir Krücken», zitiert das Blatt Farhan. «Inzwischen kann ich wieder Fussball spielen. Ich lerne sogar Deutsch.»
Deutschland ist «verdammt zum Führen»
Die dankbaren «Deutschland, Deutschland»-Rufe der ankommenden Menschen zeigt auch CNN. Die «New York Times» sieht angesichts dieser Stimmung das Land «einmal mehr im Zentrum eines europäischen Dramas, genötigt oder verdammt zum Führen durch Reichtum und Grösse und den Mangel an Führungskraft von Brüssel und anderen Staaten in der Europäischen Union». Während Deutschland versuche, in der EU einen Konsens in der Flüchtlingskrise zu organisieren, stelle sich eine aus der Ukraine- und der Griechenland-Krise «vertraute Dynamik ein, dass Berlin seine Partner drängt, nach Regeln zu leben, denen nicht alle folgen wollen».
US-Medien hatten in den vergangenen Wochen auch über Brandanschläge auf zumeist noch nicht bezogene Asylantenheime in Deutschland berichtet. Doch betont wurde immer wieder, dass es sich bei Neonazis und Ausländerfeinden um kleine Minderheiten handelt. Ein positives Echo fand der emotionale Kommentar der «Panorama»-Moderatorin Anja Reschke in den «Tagesthemen», in dem sie ihre Landsleute dazu aufrief, dem «Hass im Netz» entgegenzutreten.
Der viel beachtete Kommentar von Anja Reschke in den «Tagesthemen». Quelle: Youtube
Eben noch die brutalen Spardiktatoren, die das griechische Volk in den Abgrund stürzen. Jetzt Europas gütigstes Land, das die von den Kriegsgrauen Verfolgten mit offenen Armen empfängt. Radikaler kann der Imagewechsel, den die Deutschen in den Augen der Briten binnen weniger Wochen vollzogen haben, kaum sein.
«Dass sie sich ihrer schämen sollen, daran sind die Deutschen seit langer Zeit gewöhnt. Die Briten hingegen erzählen stets nur edelmütige Legenden über sich selbst. Jetzt hat David Cameron Schande über uns alle gebracht, seine garstige Partei uns einen garstigen Ruf eingebracht», schrieb vor wenigen Tagen eine Kolumnistin des linksliberalen «Guardian». Die Emotionswelle, die seit Wochen über den Kontinent rollte, war zeitverzögert auch im Königreich angekommen. In den Strassen Londons sah man am Wochenende vor einigen Häusern erste handgemalte Schilder mit den Worten «Flüchtlinge willkommen».
Gewichtige Stimmen in Politik wie Presse aber lassen vom britischen Pragmatismus nicht ab. «Dass einige bekannte Politiker Tränen angesichts des Fotos eines ertrunkenen Kleinkinds vergiessen, sollte keines Kommentars bedürfen», schimpft der Kolumnist der «Sunday Times». Denn sie hätten vergessen, dass es nicht um sie, sondern um das Ganze gehe.
Und das sieht man sehr nüchtern. Für Deutschland möge es angesichts seiner ökonomischen Stärke und demografischer Schwäche durchaus Gründe geben, Hunderttausende aufzunehmen. Aber «die Flut der Flüchtlinge muss an ihrer Quelle gestoppt werden», so die «Times» weiter. Nicht durch eine EU-Quotenregelung, sondern durch Hilfe in der Region. Und möglicherweise bald Militärschläge gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad. Immerhin dies: Cameron hat zugesagt, 15'000 Flüchtlinge in sein Reich aufnehmen zu wollen.
Spanier loben die Solidarität der Deutschen
Auch in Spanien vollzieht sich nach dem bildstarken Wochenende aus Deutschland ein bemerkenswerter Imagewandel. Das Deutschlandbild der Spanier, das in den letzten Jahren wegen der harten Sparauflagen für das Mittelmeerland gelitten hat, hellt sich nun deutlich auf. «Deutschland geht in dieser schwierigen Flüchtlingskrise mit gutem Beispiel voran», urteilte ein Leitartikler der Zeitung «El País». «Es ist ein Verdienst der Deutschen, dass sie das Problem nicht einfach ignorieren.» Vielmehr habe die Bundesregierung, allen voran Kanzlerin Angela Merkel, sowie die Bevölkerung ihre moralische Autorität unter Beweis gestellt.
«Es ist ein Verdienst der Deutschen, dass sie das Problem nicht einfach ignorieren.»
Der Kommentator vergisst freilich nicht zu erwähnen, dass in Deutschland im vergangenen Jahr fast täglich ein Anschlag auf ein Asylantenwohnheim zu beklagen war. Doch mit der herzlichen Aufnahme der Flüchtlinge habe man die fremdenfeindlichen Stimmen zum Schweigen gebracht. Die Zeitung «El Mundo» meint, die Solidarität der Deutschen solle ganz Europa als Vorbild dienen. «Die Bilder von den Münchnern, die die Flüchtlinge mit Kleidung, Lebensmitteln und Spielsachen empfangen, ist eine Lektion für Länder, die sich gegen die Brüsseler Verteilungsquoten sträuben.»
Italiens «Ode an die deutsche Freude»
Euphorische Zeilen und Reaktionen auch in Italien: «Offene Türen und Applaus für die Flüchtlinge», titelt der «Corriere della Sera» und widmet dem Thema drei Seiten. «Il Manifesto» zieht sogar eine Parallele zum Fall der Berliner Mauer 1989 und spricht vom «erneuten Mauerfall».
«Das europäische Deutschland schreibt eine schöne Seite der Geschichte», twittert Ferruccio de Bortoli, ehemaliger Herausgeber des «Corriere della Sera». Staatssekretär Sandro Gozi, der im Kabinett von Ministerpräsident Matteo Renzi für Europaangelegenheiten verantwortlich ist, sagt in einem Interview: «Schluss mit der Kurzsichtigkeit: Die Mauern fallen binnen weniger Tage.» Sandra Zampa, enge Mitarbeiterin von Ex-Premier Romano Prodi, erklärt Deutschland zum Vorbild für ganz Europa. «Bewegende Bilder aus München. Das ist ein Zeichen, dass das wahre Europa existieren kann.»
«Bewegende Bilder aus München. Das ist ein Zeichen, dass das wahre Europa existieren kann.»
Die Szenen aus München könnten das Deutschlandbild in Italien nachhaltig verändern. Italien ging mit Deutschland in den vergangenen Jahren hart ins Gericht. Rom machte die Sparpolitik Berlins mit für die schwere Wirtschaftskrise im eigenen Land und in Europa insgesamt verantwortlich. Deutschland wurde in der italienischen Presse als «kurzsichtig», «egoistisch» und «dominant» beschrieben. Vittorio Feltri, Edelfeder der rechtskonservativen Zeitung «Il Giornale», sprach in einem gleichnamigen Buch sogar vom «Vierten Reich».
Der liberale Journalist Oscar Giannino, Gründer der politischen Bewegung «Fare per fermare il declino», gestattet sich einen ironischen Seitenhieb auf alle italienischen Deutschlandkritiker: «Je weiter die humanitäre Wende Merkel-Deutschlands in der Flüchtlingsfrage voranschreitet, desto trauriger wird die intellektuell-politische Mehrheit Italiens. Das Vierte Reich ist verschwunden.»
Der «Corriere della Sera» beschreibt detailliert den Empfang mit Beethovens «Ode an die Freude». Der Schriftsteller, Germanist und Politiker Claudio Magris, Träger des Friedenspreises, kommentiert im «Corriere»: «Das, was sich da abgespielt hat, kann weder die Schuld der Vergangenheit auslöschen noch die Deutschen in ein Volk von Heiligen verwandeln. Aber es kann der Torheit von Vorurteilen gegenüber Deutschland entgegengesetzt werden, die von all jenen wie eine mechanische Litanei und Stereotype wiederholt worden sind, die jetzt als Ignoranten entlarvt werden.»
«La Repubblica»-Herausgeber Eugenio Scalfaro schreibt in seinem Sonntagskommentar, der in Italien richtungsweisend ist, von der «Wiederentdeckung europäischer Werte». Der Motor sei «das Deutschland der Merkel, wobei sie den Grossteil der öffentlichen Meinung ihres Landes und Europas hinter sich hat: Zivilgesellschaft, Institutionen, Wirtschaft, Sportclubs, Schüler und Studenten, Intellektuelle.»
Ungarn reibt sich verwundert und verständnislos die Augen
Der warme Empfang für die Flüchtlinge in Deutschland und Österreich löst in Ungarn grösstenteils Verwunderung aus. «Wie lange halten die Deutschen das durch, diese maximal aufgeklärte, fremdenfreundliche Haltung?», fragte ein Radiomoderator einen deutschen Korrespondenten im dezidiert linken «Klub Rádio». Als die Antwort lautete, ziemlich lange, mochte es der Moderator nicht wirklich glauben: «Aber das sind doch Syrer, Araber und so weiter, und wenn es immer mehr werden ...?»
Auch von konservativen Meinungsmachern werden deutsche Kollegen gefragt, wie lange es denn dauern wird, bis das «wahre» Gesicht der Deutschen zum Vorschein kommen wird und sie die unendliche Flut von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten wieder ablehnen werden. In den Medien wird vor allem der Effekt thematisiert, den der freundliche Empfang für die Migranten haben muss, nämlich den Flüchtlingsstrom rasch zu vervielfachen – mit negativen Folgen für Ungarn.
Insofern reagiert die ungarische Politik vor allem mit scharfer Kritik. Regierungssprecher Zoltán Kovács warf den Regierungen in Wien und Berlin vor, Tausende Menschen unüberlegt ins Land gelassen zu haben, unter Umgehung geltenden EU-Rechts und «ohne zu wissen, wer sie sind, ohne jede Kontrolle ihrer Identität». Sie hatten zuvor eine Registrierung in Ungarn gemäss der Schengen-Vorschriften verweigert. Kovács sagte, die Versprechungen aus Deutschland an die Flüchtlinge seien der Grund, warum sie sich weigerten, mit den ungarischen Behörden zu kooperieren.
Polen befürchtet «Europa der zweierlei Moral»
In der liberalen «Gazeta Wyborcza» befürchtet der Leitartikler, dass statt des von Warschau lange gefürchteten Europas der zwei Geschwindigkeiten jetzt ein «Europa von zweierlei Moral» entstehe. Und Polen drohe dabei in der schlechteren Kategorie zu landen.
Die Pro-Flüchtlings-Fraktion im Land wird jetzt zwar stärker. Aber die Stimmen der Besorgnis überwiegen. «In Deutschland steht die Aufnahme von Flüchtlingen als Wiedergutmachung für die NS-Verbrechen in der Verfassung», schreibt das Magazin «Wprost». Aber es sei dort ebenso wenig wie im reichen Schweden gelungen, ein beispielhaftes Modell der Integration aufzubauen. Dies gelte besonders für Menschen aus dem islamischen Kulturkreis. «Das Scheitern der Multikulti-Politik ist für viele Westeuropäer inzwischen offensichtlich, und Vorwürfe wegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus werden daran nichts ändern.»
Die Türkei ist unbeeindruckt
Mit der Aufnahme von ein paar Tausend Flüchtlingen können die Deutschen in der Türkei niemanden beeindrucken, nicht einmal, wenn es Bürgerinnen und Bürger sind, die den Flüchtlingen am Ende eines qualvollen Weges einen freundlichen Empfang bereiten. Natürlich sind die in Deutschland angekommenen syrischen Flüchtlinge ein Nachrichtenthema; im Fernsehen erzählen Syrer, wie erleichtert sie sind, der Hölle in Ungarn entronnen zu sein; auch der Empfang in Frankfurt ist zu sehen.
Aber feiern tut in der Türkei deswegen kaum jemand Deutschland. Nur zwei Zeitungen – allerdings zwei auflagenstarke – haben das Thema auf die Titelseite getragen: Fast wortgleich titeln die liberalkonservative, regierungskritische «Hürriyet» und die inzwischen der AKP nahestehende «Milliyet», Aylan habe den Weg und die Tür geöffnet. Also der Flüchtlingsjunge Aylan Kurdi, der tot am Strand von Bodrum gefunden wurde. Das Foto ging vergangene Woche um die Welt.
In den sozialen Medien hält es ein Teil mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der vergangene Woche die europäischen Staaten dafür verantwortlich machte, dass das Mittelmeer zu einem Massengrab geworden ist. Der Präsident verwies erneut darauf, dass die Türkei mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe. Ausdrückliches Lob für Deutschland ist selten. Typischer ist ein Kommentar von «Hürriyet»-Autor Kanat Atkaya: «Es wäre nicht naiv, es wäre dumm, zu glauben, dass diese Bilder von Menschlichkeit die deutsche Wirklichkeit widerspiegeln würden.»
Russland passt das viele Lob nicht
Russland ist in der europäischen Flüchtlingskrise kaum mehr als ein Zuschauer, gleichzeitig will Moskau das Drama für eigene Zwecke nutzen. Präsident Wladimir Putin macht den Westen für den Flüchtlingsstrom verantwortlich: «Die Krise war absolut vorhersehbar.» Die Schuld trage der Westen selbst, vor allem die USA. «Europa folgt blind den amerikanischen Anweisungen und trägt nun diese schwere Last.»
Er kritisierte Europas «fehlerhafte Aussenpolitik, insbesondere in der muslimischen Welt des Nahen Ostens und Nordafrikas«, indem es versuche, anderen Ländern die eigenen Standards aufzuzwingen. Das Aussenministerium erklärte, der Flüchtlingsstrom sei Ergebnis einer «nicht durchdachten Politik des Wechsels politischer Regime». Das ist auch als Warnung vor einer Revolte in der Heimat zu verstehen, vor dem sich die Elite fürchtet.
«Europa folgt blind den amerikanischen Anweisungen und trägt nun diese schwere Last.»
Im Propagandakrieg nutzt Moskau jede Chance, den Westen zu geisseln – und den Russen die eigene Politik als die bessere zu präsentieren. Kremltreue Medien wie die «Komsomolskaja Prawda» warnen etwa vor dem «Untergang der alten Welt». Das Boulevardblatt behauptet: «Durch Europa fegen Horden gieriger Migranten.»
Putin meint, die Flüchtlingskrise sei nur zu stoppen, wenn die Probleme vor Ort gelöst werden. Das ist Moskaus zweite Botschaft: Putin trommelt gerade für eine Allianz gegen die Terrororganisation IS, an der sich die USA und Syrien beteiligen sollen. Russland unterstützt Machthaber Baschar al-Assad.
Die Europäische Union könne von Russlands Erfahrung beim Umgang mit Flüchtlingen lernen, hiess es aus Moskau weiter. Gemeint sind Flüchtlinge aus der Ostukraine, die zunächst umfangreiche Hilfe erhielten. Bei den vergleichsweise wenigen Flüchtlingen, die aus Syrien kommen, zeigt sich Russland indes weniger hilfsbereit. (Die Welt)
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