SprachbetrachtungDer Wortschatz der Krise
Corona prägt auch unsere Art zu reden. Seit dem Ausbruch der Pandemie haben Wortschatzforscher viele typische Begriffe identifiziert – von «Abstrich» über «Coronoia» bis «zoomen».

Nur wenige Monate ist es her, da wussten die wenigsten, was «Triage» oder «Übersterblichkeit» bedeutet, und Begriffe wie «Spuckschutzscheibe» oder «Distanzschlange» waren noch gar nicht erfunden worden. Nie in jüngerer Vergangenheit hat ein einzelnes Thema unser Vokabular so dominiert wie die Corona-Krise.
Allein das Wort Corona selbst hat uns binnen kurzem eine Flut neuer zusammengesetzter Hauptwörter beschert, von der «Corona-Hysterie» bis zu den eventuell dem «Lockdown» (auch so ein neues Wort) zu verdankenden «Corona-Babys». Während in der EU über «Corona-Bonds» gestritten wird, diskutiert Österreich über die «Corona-Matur»; die Schweiz auch, allerdings bisher noch ohne das betreffende Kompositum dafür zu verwenden.
«Solche Wörter sind unser Brot- und-Buttergeschäft», sagt Henning Lobin, Leiter des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. «Mindestens so interessant wie Zusammensetzungen sind aber Begriffe wie ‹Coronoia› und ‹Coronials› – Parallelbildungen zu ‹Paranoia› und ‹Millennials›, die bestehende Wortbildungsmuster auf die gegenwärtige Situation anwenden.»

Das IDS dokumentiert Entwicklungen der deutschen Sprache, es sammelt unter anderem sogenannte Neologismen und deren Nutzung. Daran könne man «regelrechte Mentalitätszyklen ablesen», sagt Lobin. Immer wieder prägen aussergewöhnliche Ereignisse kurzfristig unser Vokabular. So bescherten die Anschläge vom 11. September 2001 der Welt Sprachbilder wie «Ground Zero» oder die «Achse des Bösen».
Was Corona einzigartig mache, sagt Henning Lobin, sei die Verdrängungskraft des Themas. Seit Beginn der Krise machten die Wortschatzforscher des IDS die Beobachtung, dass das Vokabular schrumpft, zumindest in den deutschsprachigen Onlinemedien: Während normalerweise die 100 am häufigsten verwendeten Wörter von Tag zu Tag sehr variieren, setzten sich im Laufe von 18 beobachteten Wochen «Coronavirus» und «Corona-Krise» ziemlich unangefochten an die Spitze.
Um das Zentralwort herum spriessen neue oder neu gebräuchliche Wörter, von A bis Z und von «Abstrich» bis «zoomen». Bereits bestehende Begriffe werden neu besetzt, wobei manche eher beschönigend, andere verstärkend wirken. Die viel beschworene «Öffnung» der Gesellschaft etwa sei ein Euphemismus: «Es ist ja viel mehr geschehen, als dass etwas geschlossen wurde – es wurden Grundrechte beschnitten», sagt Lobin. Das Wort «Epizentrum», etwa auf den Skiort Verbier angewandt, empfindet er hingegen als Dramatisierung.
Anglizismen und Seuchen-Denglisch
Einige der Neubildungen bezeichnen eher kurzlebige Phänomene: Die «Corona-Partys» etwa sind aus dem Vokabular ebenso schnell verschwunden wie aus der Realität. Der «Immunitätsausweis» ist als Begriff so neu, dass er in der Liste noch gar nicht auftaucht. Andere Prägungen sind eindeutig politisch oder polemisch motiviert, von Angela Merkels «Öffnungsdiskussionsorgien» bis zum «Seuchen-Sozialismus» des NZZ-Chefredaktors Eric Gujer.
Eine eigene Gruppe innerhalb des Corona-Vokabulars bilden aus dem Englischen übernommene Begriffe wie «Social Distancing» sowie «denglische» Wörter, von denen das «Homeoffice» eines der prominentesten sein dürfte. Diesen Begriff gibt es in Grossbritannien auch, dort bezeichnet er allerdings nicht den Schreibtisch daheim, sondern das Innenministerium. Durch dieses Pseudo-Englisch werde das deutsche Wort «Heimarbeit» aufgewertet, sagt Lobin.
Nach den jüngsten Erhebungen des IDS nimmt die Frequenz der Corona-Wörter im Verhältnis zu anderen Vokabeln bereits langsam wieder ab – einhergehend mit der langsamen Öffnung und früher, als die Linguisten erwartet hatten.
Fachtermini werden wieder verschwinden
Welche Wörter aus dem Corona-Pool sich halten werden, ist derzeit schwer zu prognostizieren. Das epidemiologische Fachvokabular mit seinen «Partikeldurchmessern» und «Reproduktionszahlen» jedenfalls wird vermutlich wieder aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Kandidaten für eine Verankerung im Alltag seien vor allem solche Wörter, die auch eine konkrete Veränderung in der Welt beschreiben, glaubt Lobin. So könnte es sein, dass wir rückblickend mit dieser Zeit vor allem einen schon lange gebräuchlichen, nun aber anders besetzten Begriff verbinden werden: «Maske».
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