Dokfilm über Alice Miller Der Vater schlug zu, die Mutter schaute zu
Martin Miller, der Sohn der berühmten Psychologin Alice Miller, rechnet in einem beklemmenden Film mit seiner Mutter ab.

«Das Drama des begabten Kindes» von 1979 war ein Bestseller, und die Autorin Alice Miller, eine aus Polen stammende, in der Schweiz lebende Psychologin, wurde als Lichtgestalt im Kampf für den Schutz und die Rechte der Kinder gefeiert. Millionen von Leserinnen und Lesern wurden durch sie auf dieses wichtige Thema aufmerksam. In ihren späteren Werken wie «Abbruch der Schweigemauer» vertrat sie zusehends abstruse Thesen: Hitler etwa sei deshalb zum Weltenzerstörer geworden, weil er als Kind geschlagen worden sei usw.
Einer, der den Ruhm seiner Mutter nicht mehren wollte, war ausgerechnet ihr Sohn Martin Miller. In seinem Buch «Das wahre Drama des begabten Kindes» (2013) wirft er Alice Miller vor, bei der Erziehung völlig versagt zu haben.
Während ihn sein Vater, der ebenfalls aus Polen stammende Andreas Miller, tagtäglich und über Jahre brutal geschlagen habe, habe seine Mutter tatenlos zugeschaut oder sich vom Geschehen abgewandt. In den Briefen an ihren erwachsenen Sohn, den sie einmal als «kaputt» bezeichnet, wirft sie ihm sogar vor, ein Produkt ihres Ehemannes zu sein: «In Dir fürchtete ich Deinen Vater.»
Mitten unter Deutschen
Im neuen Film mit dem unglücklichen Titel «Who's Afraid of Alice Miller?» – die Anspielung auf Edward Albee läuft ins Leere – macht sich der als Psychotherapeut in der Nähe von Zürich arbeitende Martin Miller auf Spurensuche. Zusammen mit Irenka Taurek, der Cousine von Alice Miller, reist der 70-Jährige nach Warschau und Lodz, um Dokumente seiner Eltern aus der Zeit vor ihrer Ausreise 1946 in die Schweiz zu suchen.
Dabei bleibt vieles rätselhaft, anderes irritierend: etwa die Tatsache, dass die 1923 als Alicija Englard geborene Jüdin während der Besetzung Warschaus durch die Nationalsozialisten unter falschem Namen mitten unter Deutschen lebte. Lernte sie dort den Katholiken Andrzej Miller kennen? Wurde sie erpresst von jemandem, der wusste, dass sie Jüdin war? War es gar ihr späterer Ehemann?

All diese Fragen kann weder Martin Miller noch der Film beantworten, der ganz auf ihn und die optimistische Irenka Taurek fokussiert bleibt. Regisseur Daniel Howald bildet das Drama des ewigen Sohnes, der noch heute unter dem mütterlichen Liebesentzug leidet, bloss ab. Während Alice Miller Briefe an Tony Blair und den Papst schreibt, um auf die fatalen Folgen von Kindsmissbrauch aufmerksam zu machen, überlässt sie den Sohn der «Grausamkeit des Vaters», wie sie selbst in einem Brief schreibt. Wer geschlagen werde, so führt sie in einem Interview mit dem norwegischen Fernsehen aus, habe ein Leben lang unter den Schädigungen zu leiden. Zynisch, ja schizophren für eine Autorin, die wusste, womit alles beginnt: «Am Anfang war Erziehung» heisst eines ihrer Bücher in Anlehnung an die Bibel.
Der Film «Who's Afraid of Alice Miller?» weist über das Einzelschicksal hinaus auf eine problematische Seite psychologischer beziehungsweise psychoanalytischer Argumentationen hin: Begriffe wie «Verdrängung» oder «Verleugnung» eignen sich bestens, um berechtigte Kritik von sich zu weisen. Alice Miller hat genau das in der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Sohn getan. Nur in den letzten Lebensjahren, die sie in Südfrankreich verbrachte, hatte sie manchmal ein Einsehen: «Es war mir nicht gegeben, eine gute Mutter zu sein.»
Der Film läuft im Zürcher Kino Arthouse Uto.
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