Proteste in TunesienDer Präsident beschimpft seine Kritiker als «Mikroben» oder «Viren»
Tunesien steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, zugleich regiert der Präsident immer despotischer. Im Ursprungsland des Arabischen Frühlings gehen nun wieder Tausende auf die Strasse.

Es war die grösste Demonstration gegen Präsident Kaïs Saïed seit Monaten – und sie vereinte weite Teile der tunesischen Opposition. Tausende versammelten sich am vergangenen Sonntag in Tunis in Sorge um ihre junge Demokratie. Sie kamen mit Plakaten ins Zentrum der Hauptstadt und riefen Slogans: «Wir werden von Brot und Wasser leben, aber wir können nicht mit Kaïs Saïed leben» und «Nieder mit dem Putsch» oder «Die Leute wollen, was Sie nicht wollen, Saïed». Die Demonstranten werfen dem Staatschef vor, Tunesien in eine Autokratie zu verwandeln und das Volk zu spalten.
Es sind düstere Zeiten im Ursprungsland des Arabischen Frühlings. Als sich Ende 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid im Zuge von Polizeiwillkür selbst anzündete und an den Folgen starb, löste er damit eine demokratische Revolution aus, die auf viele arabische Länder überschwappte. Die Tunesier jagten ihren Langzeitherrscher Ben Ali aus dem Land und schafften als einzige arabische Nation den Übergang in eine demokratische Staatsform.
Der «Robocop» regiert per Dekret
Nun steckt das Land in einer politischen und wirtschaftlichen Krise. Saïed, 2019 zum Präsidenten gewählt, hat in den zurückliegenden Monaten zunehmend demokratische Strukturen demontiert. Seit vergangenem Juli regiert der 64-jährige Verfassungsrechtler, der wegen seiner monotonen Stimmlage und seiner spröden Art den Spitznamen «Robocop» trägt, per Dekret. Er rief den nationalen Notstand aus, setzte die Regierung ab, hob die Immunität der Abgeordneten auf und suspendierte das Parlament. Nachdem sich die Abgeordneten in einer Onlinesitzung getroffen hatten, löste er es Ende März ganz auf. Den Parlamentariern wirft er einen «Putschversuch» vor, einige müssen sich nun vor Gericht verantworten.
Kaïs Saïed stellt sein Vorgehen als einzigen Weg dar, um die staatliche Lähmung nach Jahren des politischen Streits und der wirtschaftlichen Stagnation zu beenden. Anfangs glaubten ihm viele Tunesierinnen und Tunesier das noch. Der parteilose Konservative genoss grosse Popularität, denn er entstammt nicht der korrupten Politikerelite und versprach Reformen sowie ein Ende der grassierenden Vetternwirtschaft im Land. Das Jahr 2022 rief Saïed als «Jahr des Volkes» aus: Im Juli soll ein Referendum über eine neue Verfassung und Ende des Jahres sollen Parlamentswahlen stattfinden.

Internationale Wahlbeobachter möchte Saïed dann nicht im Land wissen, merkte er kürzlich per Video an. «Sie schlugen vor, Beobachter zu schicken. Warum? Wir sind kein besetztes Land», sagt der Präsident, umgeben von nickenden Männern, allesamt Mitglieder der neuen Wahlkommission. Die alte Kommission hatte er kurzerhand aufgelöst, nachdem ihr Leiter es gewagt hatte, die Gültigkeit des Referendums infrage zu stellen.
«Die Opposition rauft sich gerade zusammen, denn es steht viel auf dem Spiel», sagt der tunesische Politologe Seifeddine Ferjani. Tatsächlich hat Saïeds Kurs zumindest diesen positiven Nebeneffekt: Die 217 Mitglieder des tunesischen Parlaments widerriefen die Neuordnung des Staats durch den Präsidenten – und zeigten damit seltene Einigkeit über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg. Immer wieder war es früher im Parlament zu Schlägereien und Beschimpfungen vor laufender Kamera gekommen; auch deshalb provozierte die Auflösung anfangs keinen grossen Aufschrei in der Bevölkerung. Viele Tunesier halten die Abgeordneten für korrupt und inkompetent.
«Die Tunesier haben über zehn Jahre in Freiheit gelebt – und Kaïs Saïed wurde in fairen Wahlen gewählt. Nun delegitimiert er diese Basis.»
Ferjani versteht die ungewohnte Einigkeit der Volksvertreter als Reaktion auf die existenzielle Bedrohung des demokratischen Systems. «Die Tunesier haben über zehn Jahre in Freiheit gelebt – und Kaïs Saïed wurde in fairen Wahlen gewählt. Nun delegitimiert er diese Basis.» Zudem sind Nichtregierungsorganisationen zunehmend bedroht, da Saïed ihnen verbieten will, sich vom Ausland, darunter westliche Demokratien, finanziell fördern zu lassen. Auch Journalisten, Blogger und Aktivisten geraten immer mehr unter Druck, landen teilweise sogar im Gefängnis.
Einfach wird der oppositionelle Kampf nicht. Auch das Justizsystem hat Saïed im Februar nach seinem Belieben umgekrempelt, per Dekret schaffte er einen neuen Obersten Justizrat, dessen Mitglieder er zum Teil selbst ernennt und disziplinarisch belangen kann. Die Justiz sei «Saïeds persönliches Reich», sagt Politologe Ferjani, auch Sicherheitsdienste und Armee gehorchten seinen Befehlen: «Das Militär, das geschworen hat, die Verfassung zu schützen, erkennt weiterhin Saïeds Autorität an, obwohl er sich der Verfassung widersetzt.»
Viele Bäckereien schliessen
Für besonders gefährlich hält Ferjani die Radikalisierung und Entgleisung der Sprache und die daraus entstehenden gesellschaftlichen Gräben. «Der Präsident spaltet Tunesier in Verräter und Anhänger. Seine Rhetorik könnte dazu führen, dass seine Unterstützer als Miliz fungieren und Andersdenkende sogar töten. Ihnen wird es nicht reichen, sie einzuschüchtern oder ins Gefängnis zu stecken», fürchtet der Politikwissenschaftler. Schon seit Monaten beschimpft der Präsident Kritiker öffentlich als «Mikroben» oder «Viren» und hat damit offenbar Erfolg: In den sozialen Medien gehen nationalistische Lieder viral, die «Feinde des Volkes» schmähen.
Hinzu kommt die Wirtschafts- und Versorgungskrise. Schon lange leiden Tunesier aufgrund von Missmanagement unter Lieferengpässen, etwa bei Weizen und Sonnenblumenöl. Dann kam der Angriff auf die Ukraine. «Der russische Krieg in der Ukraine macht das Leben für Tunesier, die bereits unter der schlechten Wirtschaftslage durch Corona gelitten haben, unerträglich», sagt Ferjani. Tunesien importiert 50 bis 60 Prozent seines Weizens aus der Ukraine, nun muss es Mehl und Brot rationieren, viele Bäckereien schliessen, vor anderen stehen die Menschen in langen Schlangen an.
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