Der neue Mann im Stiftungshaus
In seinem neuen Roman erzählt Sebastian Guhr die Geschichte zweier Mädchen in der DDR der 80er-Jahre. Der aktuelle Stipendiat der Stiftung Lydia Eymann hat sein Projekt vorgestellt.

Die beiden Schwestern, um die es in Sebastian Guhrs neuem Romanentwurf geht, sind anders. In die Gesellschaft der DDR der 80er-Jahre, wo sie aufwachsen, passen sie nicht so richtig rein. Denn die Teenager interessieren sich vor allem dafür, aus ihren Fundstücken von der örtlichen Müllkippe die verschiedensten Automaten zu bauen. So zum Beispiel das «Aquaphon», eine Art wasserbasiertes Walkie-Talkie, oder einen Apparat, mit dem sie interessante Gerüche erzeugen können. Besonders die jüngere Schwester Yvette interessiert sich dafür; sie möchte später «Nasenkünstlerin» werden und hört sich mittels ihrer synästhetischen Fähigkeiten auch gerne mal den Geruch von einem Stück Käse an.
Es ist eine skurrile, etwas düstere Geschichte, die Guhr skizziert hat. Das ist wohl nicht untypisch für ihn, war doch sein letzter Roman «Die Verbesserung unserer Träume» eine Dystopie, in der die Menschen eine Siedlung auf einem weit entfernten Planeten gegründet haben und mit der Trennung zwischen Traum und Realität und der eigenen Vergänglichkeit hadern.
Lange Arme einer Geschichte
Seit rund zwei Monaten lebt und arbeitet der Berliner Autor nun schon in Langenthal. Er ist der diesjährige Stipendiat der Lydia-Eymann-Stiftung, die es jedes Jahr einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin ermöglicht, sich ein Jahr lang dem Schreiben zu widmen, indem sie ihre Wohnung an der Aarwangenstrasse und einen Beitrag an die Lebenshaltungskosten zur Verfügung stellt. Am Freitagabend gewährte Guhr im Langenthaler Parterre nun Einblick in sein neuestes Projekt: das Buch «Die langen Arme», an dem er gerade arbeitet.
Das sei aber nur ein Arbeitstitel, erklärt er. Die Idee dahinter sei es, dass die langen Arme einer Figur die langen Arme der Geschichte symbolisieren. Dass sie also dafür stehen, dass Ereignisse über eine lange Zeit fortwirken können.
Irgendwann bauen sich die beiden Schwestern im Romanentwurf ein Tunnelsystem, mit dem sie die Häuser der anderen Stadtbewohner betreten und diese beobachten können. Sie bauen sich ein der staatlichen Überwachung dieser Zeit ähnliches Bespitzelungssystem auf. Und wenn sie nicht gerade Apparate erfinden oder ihre Nachbarn beobachten, treffen sich die Mädchen mit anderen Nonkonformisten zum Psychoanalyse-Lesekreis in einem Gewächshaus. Es ist eine Denkrichtung, die in der kommunistischen und am Kollektiv orientierten DDR nicht gern gesehen ist, beschäftigt sie sich doch ausgeprägt mit der unbewussten Seite von Individuen. Genau hier finden die Mädchen zum ersten Mal Erwachsene, mit denen sie zurechtkommen.
Als dann die Wende kommt – vielleicht sogar ausgelöst von einer Erfindung der beiden Mädchen? – müssen sich die Schwestern das erste Mal in der «schönen neuen Welt» zurechtfinden. «Es wird ihnen unterschiedlich gut gelingen», verrät Guhr bei der Lesung.
Mindestens einmal von Hand
Der Autor wirkt, während seines Auftritts ebenso wie danach, sehr nüchtern und konzentriert. Entsprechend strukturiert sieht sein Arbeitsalltag in Langenthal aus: Am Morgen schreibe er jeweils etwa fünf Stunden, am Nachmittag lese er, und am Abend setze er sich noch einmal damit auseinander, was er am Vormittag geschrieben habe und visualisiere das, was er am nächsten Tag schreiben wolle, erzählt Guhr, der in Berlin Philosophie und Germanistik studiert hat. Dabei sei es ihm wichtig, den Text mindestens einmal mit der Hand zu schreiben. «So ist man zur Langsamkeit gezwungen», erklärt der 35-jährige Autor. Das ermögliche ihm eine intensive Beschäftigung mit jedem Satz.
Auch der Ausgleich ist Sebastian Guhr wichtig. Regelmässig macht er Yoga und spielt Bridge. Auch die Stadt hat er schon etwas erkundet. Er empfinde Langenthal trotz der geringen Grösse als sehr vielfältig, sagt er.
Die Lust am Dialog
Auch wenn es in seinen Romanen um grosse Themen wie menschliches Zusammenleben, Zugehörigkeit und die Bedeutung von Geschichte geht, gilt sein Hauptinteresse doch immer den einzelnen Menschen und den Beziehungen zwischen ihnen. Besonders spannend findet er Dialoge; so schrieb er schon seine Magisterarbeit über moderne Dialogromane. «Monologe sind nicht so meins», erklärt der Schriftsteller, «aber wenn zwei Menschen miteinander reden, dann entsteht dabei meistens schon eine Geschichte».
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