Der neue digitale Chef
Die Mitarbeiter im Callcenter klingen schläfrig? Dann gibts ein Kaffeetassen-Symbol: KI als Technik zur Effizienzsteigerung – oder Totalüberwachung.

Wer sich durch die Büros der Welt fragt, wird wahrscheinlich schnell feststellen, dass der kleinste gemeinsame Nenner in Sachen Hass die Powerpoint-Präsentation ist. Niemand hat Lust, sie zu halten, und noch viel weniger, ihr beizuwohnen. Der Hersteller Microsoft verspricht dafür eine Lösung. Schon bald soll eine künstliche Intelligenz probeweise dem Vortrag lauschen und anschliessend Manöverkritik halten. Und dann zeigen, wie man es besser machen könnte. Das wäre doch schön. Oder?
Eher nicht, muss man sagen. Denn der Powerpoint-Coach ist Symptom eines Trends. Die Steigerung der Effizienz hört nicht dabei auf, dass Menschen durch Computer ersetzt werden. Sollten sie nach der Automatisierungswelle noch im Büro verblieben sein, werden sie höchstwahrscheinlich auch von einem Rechner angeleitet. Wenn die Software nicht den Arbeiter ersetzt, wird sie zumindest zu dessen Vorgesetztem.
Der künstliche Coach
Die Angestellten grosser Finanzkonzerne in den USA bekommen eine erste Ahnung der sich wandelnden Kräfteverhältnisse am Arbeitsplatz bereits zu spüren. Hier wird etwa die Software einer Firma namens Cogito eingesetzt. Die erweist sich als relativ streng. Die Mitarbeiter im Callcenter reden zu schnell? Dann wird ihnen ein Tachometer-Bildchen auf den Screen projiziert. Sie klingen schläfrig? Dann taucht ein Kaffeetassen-Symbol auf. Das Programm befindet ihre Ansprache als zu wenig empathisch? Ein Herzchen weist auf den Mangel hin.
Wie so oft heutzutage ist eine künstliche Intelligenz im Maschinenraum für die Anweisungen verantwortlich. KI soll in Zukunft für jeden einzelnen für mehr Produktivität am Arbeitsplatz sorgen. Ganz vorne dabei ist etwa das von ehemaligen Google-Führungskräften gegründete Start-up Humu. Hier will man eine Software entwickelt haben, die Mitarbeitern und Führungskräften motivierende Anregungen gibt, die individuell auf die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und Potenziale abgestimmt sind.
Auch am Karlsruher Institut für Technologie forscht man an einem Konzept mit dem wenig einfallsreichen Namen «Arbeiten 4.0». Demnach sollen «KI-basierte Kompetenz-Assistenzsysteme künftig helfen, konzentrierte Arbeitsphasen zu erhalten und Anstösse zur persönlichen und beruflichen Kompetenzentfaltung zu geben». Heisst im Klartext: Durch Messung von Herzfrequenz und Hautleitwert soll erkannt werden, wann ein Mensch die für ihn produktivste Phase erreicht.
Wie man diesen sogenannten Flow erreicht und aufrechterhält, soll eine Software herausfinden, die angeblich bereits heute mit 85-prozentiger Genauigkeit das Arbeiter-Glück erkennt. Fairerweise sei gesagt, dass das Karlsruher Unterfangen reine Grundlagenforschung ist, und nicht wie drüben im Silicon Valley bereits vermarktet wird.
Die produktiven Stupser und Schubser
«Nudging» nennt man das: Eine übergeordnete Instanz, unwichtig ob Programm oder Personaler, soll dem im Zweifelsfall unmündigen Individuum einen «Schubser» in die richtige Richtung geben, um so ein erstrebenswerteres Verhalten hervorzurufen. Diesen fürsorglichen Paternalismus, den früher irgendwelche Wirtschaftsweisen oder Verhaltensökonomen ausübten, regelt in Zukunft eine künstliche Intelligenz. Dass damit im Normalfall eine Totalüberwachung einhergeht, darüber schweigen sich die Konzeptpapiere und Strategie-Pitches freilich aus.
Wie so oft werden sozialethische Fragen im Angesicht möglicher Investoren-Millionen ausgeblendet. Denn wer entscheidet eigentlich, was anschubsenswert ist, und was nicht?
Dass man sich mit den Software-Anschubsern gefährlich an längst überkommene tayloristische Methoden annähert und das auch noch bewirbt, ist wohl schlicht der notorischen Vergangenheitsvergessenheit der Tech-Branche zu verdanken. Denn schon vor fünfzig Jahren wurde kritisiert, dass so der letzte Tropfen Gewinn nicht nur aus dem Körper, sondern auch aus dem «Charakter und der Seele» der Arbeiter gequetscht werde.
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