Wyss Academy for NatureDer Mitarbeiter Nummer eins
Peter Messerli baut den von Mäzen Hansjörg Wyss mitfinanzierten neuen Thinktank auf. Wie stampft man in Bern ein Forschungsinstitut mit globalem Anspruch aus dem Boden, das neue Wege gehen will?

Ein wenig ist es, als hätte Peter Messerli, Professor für nachhaltige Entwicklung, es vorausgeahnt. «Was mich sehr beschäftigt, ist, wie man wissenschaftliches Wissen für den nötigen gesellschaftlichen Wandel besser nutzbar macht. Wir brauchen unkonventionelle Lösungen – und deshalb unkonventionelle Wissenschaftler. Es sind spannende Zeiten für Leute mit kreativem, in bestem Sinn liberalem Denken», sagte Messerli im September letzten Jahres in einem Interview in dieser Zeitung. Er bereitete gerade seinen grossen Auftritt vor der UNO-Vollversammlung in New York vor, wo er den Welt-Nachhaltigkeitsbericht präsentierte, für den er mitverantwortlich war.
Jetzt sitzt Messerli (52) am Sitzungstisch der Uni Mittelstrasse in der Länggasse, und sein eigenes kreatives, im besten Sinn liberales Denken ist gefordert. Seit wenigen Wochen leitet er als Direktor die Wyss Academy for Nature, die es seit knapp einem Monat gibt.
Headquarter Kochergasse
Der in den USA lebende Milliardär Hansjörg Wyss unterstützt das neue Institut für Nachhaltigkeitsforschung in den nächsten zehn Jahren mit 100 Millionen Franken, Kanton und Universität Bern steuern je 50 Millionen Franken bei. Hauptsitz der Akademie wird ab Herbst das Haus an der Kochergasse 4, das der Kanton für sie von der Burgergemeinde anmietet, ein paar Schritte vom Bundeshaus entfernt. Die Wyss Academy ist eine grosse Sache für Bern. Wie sie funktionieren soll, wird gerade erfunden.

«Ich bin Mitarbeiter Nummer eins», sagt Messerli mit heiterer Selbstironie. Seine bisherige Funktion, die Leitung des Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern, hat er abgegeben. Vor ihm liegt der Job, ein neues Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammenzustellen, das in Niederlassungen in Südostasien, Afrika, Südamerika und in der Schweiz praktische Antworten auf eine ganz grosse Frage findet: Wie gelingt es, ökonomischen Wohlstand zu schaffen, gleichzeitig die Natur zu schützen und keine neue Ungerechtigkeiten hervorzurufen?
Testlabor in Peru
«Wir wollen nicht mit einem grossen Wurf die Welt verändern, sondern Bausteine liefern, die rasch Wirkung zeigen.» Finden will sie die Wyss Academy in sogenannten Reallabors. Wie diese aussehen könnten, testete eine Crew etwa in Madre de Dios im tropischen Amazonasbecken von Peru. Die Region, gesegnet mit aussergewöhnlich hoher Biodiversität, leidet unter starker Abholzung, weil man eine Schnellstrasse in den Regenwald legte, die auch benutzt wird, um illegale Goldminen zu erschliessen. Die Entwaldung beschleunigt den Klimawandel, was die Artenvielfalt zusätzlich beeinträchtigt.
«Wir wollen nicht mit einem grossen Wurf die Welt verändern, sondern Bausteine liefern, die rasch Wirkung zeigen.»
Die Forscher organisierten einen dreitägigen Workshop mit allen Betroffenen – Farmerinnen, Goldsuchern, Lokalbehörden, Indigenen-Vertretern, Umweltschützerinnen. «Es ist wichtig, dass man Gewinner und Verlierer von Veränderungen an den Tisch holt», sagt Messerli, «es wäre zu einfach, auf die Goldsucher loszugehen, die ihr Einkommen verlören und in die Armut abrutschten.»
Stattdessen kam man auf einen anderen Ansatz: In der Region wächst die Brazil Nut, der Paranussbaum, dessen Früchte auf dem Weltmarkt gefragt sind. Könnte man diesen ökologisch wertvollen Baum besser nutzen, würde man den Waldverlust bremsen und neue Einkommensmöglichkeiten schaffen. «Es ist nun die Aufgabe von uns Forschern», sagt Messerli, «innert nützlicher Frist Wissen bereitzustellen. Wissen, das den Leuten vor Ort hilft, in diese Richtung zu gehen, ohne dass mit einer Monokultur das Ökosystem aus der Balance gerät.»
Eine Frage der Macht
Für ihn sei klar, dass man sich nicht scheuen dürfe, dabei auch heikle Themen anzusprechen. Zum Beispiel, wohin die Wertschöpfungskette des illegal geschürften Golds führt. Gut möglich, vermutet Messerli, dass man dann auch in der Schweiz landen würde. «Nachhaltigkeit bedeutet für mich auch, die globalen Zusammenhänge einzubeziehen», sagt Messerli, «es ist klar, dass wir die Politik nicht ausklammern dürfen und die Machtfrage stellen müssen.»

Der in Peru vorexerzierte Zugang der Berner Forscher, ihre Fragestellung flexibel an konkreten Problemen vor Ort auszurichten und die rasche praktische Umsetzung ins Zentrum zu rücken, ist ungewöhnlich in der Welt der Wissenschaft. Genau das überzeugte Hansjörg Wyss, sodass er über seine Wyss Foundation 100 Millionen Franken in den entstehenden Thinktank investiert. Eine dieser Tage im Handelsregister eingetragene Stiftung trägt das Berner Institut nun, im Stiftungsrat sitzen neben Messerli Uni-Rektor Christian Leumann, Hansjörg Wyss, Molly McUsic, die Präsidentin der Wyss Foundation, sowie André Nietlisbach, Generalsekretär der kantonalen Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion.
Peter Messerli rechnet damit, dass «wir nach einer Anschubphase von zwei Jahren Ende 2021 unsere Reisegeschwindigkeit erreichen werden». 40 bis 50 Forscherinnen und Forscher werden bis dann für die Wyss Academy arbeiten. Die derzeit laufende Personalsuche sei anspruchsvoll, es müssten Leute dazustossen, sagt Messerli, die nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs pflegen, sondern auch zu Praktikern den Draht finden – beispielsweise im Berner Oberland. Denn Reallabors nach dem Vorbild von Madre de Dios sind auch für die Schweiz angedacht, etwa um die Jungfrau-Region auf CO2-neutralen Kurs zu steuern.
Der Einfluss von Wyss
Natürlich wirft das Engagement von Hansjörg Wyss eine heikle Frage auf: Nimmt er als Geldgeber auf die Forschung Einfluss? Zumal die Berner Akademie vertragsgemäss nach drei, fünf und acht Jahren Evaluationsberichte vorlegen muss, aufgrund derer die Stiftung von Wyss entscheidet, ob sie ihre Unterstützung fortsetzt. «Wir haben einen Forschungszweck ausgehandelt», sagt Messerli dazu. Die Freiheit, wie man forsche, sei hundertprozentig gewährleistet: «Da redet uns keiner rein.»

Messerli hält die Finanzierung durch Philanthrop Wyss für eine Chance, mit Forschung, die Umsetzung ins Zentrum stellt, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Dafür Geld zu erhalten, sei im herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb fast unmöglich, sagt er. Bevor er sich auf das Akademieprojekt einliess, besuchte Messerli eine von der Wyss Foundation finanzierte Forschungsstätte an der Harvard-Universität in Boston. Die dortige Direktorin habe ihm versichert, dass – im Unterschied zur Unterstützung aus der Industrie oder vom Staat – philantropisches Geld ein Garant sei, innovativ arbeiten zu können.
«Wir werden daran gemessen, ob wir Lösungswege aufzeigen, die etwas bringen.»
Dass sich die Wyss Academy in Bern äusserem Druck aussetzt, bestreitet Messerli allerdings nicht: «Wir werden daran gemessen, ob wir Lösungswege aufzeigen, die etwas bringen.» Salopp gesagt: Scheitert die Wyss Academy an diesem Realitätstest, braucht es sie wohl auch nicht.
Messerlis Perspektive geht indessen bereits weiter. Sein Plan ist es nicht, «jedes Jahr 20 Millionen Franken zu verbrauchen und nach zehn Jahren ist Schluss», sagt er. Ihm schwebt vor, das neue Institut langfristig als Pfeiler der globalen Nachhaltigkeitsforschung in Bern zu verankern und mit bestehenden international ausgerichteten Netzwerken der Universität Bern, dem Centre for Development and Environment (CDE) oder dem Oeschger-Zentrum für Klimaforschung zu verbinden.
Das Coronavirus, sagt er, habe ihm selber die Dringlichkeit seiner eigenen Mission verdeutlicht: «Ich nehme Corona wie ein Vergrösserungsglas auf die Welt wahr.» Vor zehn Jahren sagte die Forschung der Welt eine Pandemie voraus, die Frage war nur, wann genau. «Jetzt ist sie da, und die Krise ist existenziell.» In der Klima- oder der Biodiversitätsfrage rechnet die Wissenschaft mit einer ähnlichen Zeitspanne, bis Kipppunkte erreicht sind. «Wollen wir warten, bis es zu spät ist?», fragt Messerli. Er hofft, dass die Wyss Academy dem zuvorkommen wird.
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