Interview mit Medizinethiker«Der Impfdruck ist gerechtfertigt»
Das Ende der Pandemie naht. Doch der Berner Medizinethiker Mathias Wirth warnt vor Euphorie, solange noch nicht alle einen Impftermin haben.

Herr Wirth, manche können sich schon impfen lassen, andere warten unter Umständen noch Wochen darauf. Wie können wir damit umgehen?
Wir müssen aufpassen, dass wir trotz des absehbaren Endes der Pandemie nicht zu früh in einen Zustand der Euphorie verfallen. Wir werden nochmals eine prekäre Lage erleben. Was ist jetzt mit denen, die in den nächsten Tagen noch schwer erkranken? Was ist mit jenen, die sich wohl noch länger nicht impfen lassen können – Jugendlichen unter 16 Jahren und Kindern? Für sie ist die Situation umso schlimmer, da der Schutz vor Corona so nahe ist.
Was bedeuten diese unterschiedlichen Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Man kann es natürlich niemandem verübeln, der sich jetzt freut, dass er wieder seine Grundrechte wahrnehmen und seinen Bewegungsradius erweitern kann. Doch aus solidarischen Gründen ist es nicht zu empfehlen, sofort grosse Partys zu veranstalten. Es ist wichtig, dass sich alle bewusst sind, dass auch in den nächsten Wochen noch Menschen an Corona sterben werden. Jeder einzelne solche Fall so kurz vor dem Ende ist besonders bitter. Wenn wir Verständnis für die verschiedenen Ausgangslagen aufbringen und Rücksicht aufeinander nehmen, wird der Zusammenhalt kein Problem sein.
«Auch in den nächsten Wochen werden noch Menschen an Corona sterben.»
Und doch kann es für Jugendliche, die unter den vielen Einschränkungen leiden, eine Provokation sein, wenn sie vielleicht im Zug einer feuchtfröhlichen älteren Wandergruppe begegnen.
Das kann sein. Aber viele Jugendliche haben auch die Weitsicht, solche Begegnungen zu akzeptieren. Als Beobachtende verfügen wir ja selten über genug Informationen, um uns in diesen Situationen ein umfassendes Urteil zu bilden. Vielleicht hat einer der Senioren eine furchtbare Krebsdiagnose erhalten und nur noch zwei Wochen zu leben. Ich glaube, da würde jeder Jugendliche sofort sagen: Los, feiert so lange, wie ihr könnt.
Trotzdem: Man hat das Gefühl, es gehe ein tiefer Graben durch die Gesellschaft. Impfgegner, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Staatsgläubige – jeder empört sich über die andere Gruppe.
In der Pandemie werden uns die Grenzen unserer eigenen Freiheit bewusster als sonst. Ich glaube, das ist der Grund für die hitzige Stimmung. Dieses Gefühl der Ohnmacht ist für manche nur schwer zu ertragen. Sie reagieren darauf, indem sie diejenigen für inkompetent erklären, welche die Entscheidungen zu treffen haben. Und wieder andere fürchten sich so sehr vor einer Ansteckung, dass sie jeden zum Corona-Leugner erklären, der den Sinn einzelner Massnahmen anzweifelt.

Eine gefährliche Mischung.
Ja, aber die Anspannung ist nachvollziehbar. Es ist grundsätzlich zu begrüssen, dass sich viele Leute des Risikos bewusst sind und deshalb vorsichtig sein wollen. Gleichzeitig reagieren manche mit Widerwillen, wenn ihre Rechte zugunsten höher eingestufter Rechte vorübergehend eingeschränkt werden. Doch in einer Pandemie braucht es ein gesamtgesellschaftlich abgestimmtes Verhalten. Deshalb greift der Staat im Moment stärker in unseren Alltag ein als sonst. In der Wissenschaft bezeichnet man dies als Paternalismus. Ethisch ist Paternalismus nur gerechtfertigt, wenn die Massnahmen dem Wohl der Einzelnen dienen. Was zurzeit der Fall ist. Doch manche denken, dieser Paternalismus sei nur ein Vorwand, damit der Staat mehr Macht an sich ziehen könne.
Die Fronten sind doch auch deshalb verhärtet, weil viele sich momentan nur in einem eingeschränkten Personenkreis bewegen – in dem die meisten ein ähnliches Weltbild haben.
Das ist eine spannende These. Es ist natürlich fatal, wenn man sich nur noch in Echokammern bewegt, in denen es keinen Widerspruch mehr gibt. Die meisten wissen aus persönlicher Erfahrung: Wenn wir mit Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen sprechen, treffen wir die besten Entscheidungen. Das könnten wir aber auch digital erreichen. Das Internet böte uns gerade jetzt die Möglichkeit, mit den unterschiedlichsten Menschen zu diskutieren. Leider nutzen wir diese Chance zu selten.
«Das Internet böte uns gerade jetzt die Möglichkeit, mit den unterschiedlichsten Menschen zu diskutieren.»
Besonders angefeindet werden zurzeit Impfgegner. Ist es ethisch vertretbar, wenn sie mit Nachteilen rechnen müssen?
Es herrscht politischer Konsens darüber, dass eine Impfpflicht in der Regel keine Option ist. Die Unantastbarkeit des Körpers soll geschützt bleiben, es wird also niemand mit brachialen Methoden zur Impfung gezwungen. Gleichzeitig hat der Staat die Aufgabe, zu informieren und zum Beispiel gerade auch Kinder und Schwangere zu schützen. Deshalb geht die Schweiz einen Mittelweg: Wer geimpft, genesen oder getestet ist, darf in Zukunft wahrscheinlich problemloser feiern, fliegen, reisen. Ich denke, dieser leichte Impfdruck ist im Moment gerechtfertigt, weil die Situation nach wie vor dynamisch ist.
Könnte der aktuelle Impfdruck zum Präzedenzfall werden – zum Beispiel für den Umgang mit Masern?
Niemand hat ein Interesse daran, Personen zum Impfen zu zwingen. Kinder mit Eltern, die Impfskeptiker sind, können ja nichts dafür und würden indirekt bestraft, wenn sie zum Beispiel ohne Masernimpfung bestimmte Einrichtungen nicht mehr besuchen dürften. Das wäre ähnlich unverantwortbar wie die elterliche Weigerung zum wirksamen Schutz ihrer Kinder. Ein freiheitliches System kann es allerdings insgesamt ertragen, wenn einige Leute skurrile Positionen einnehmen.
Was genau ist eine skurrile Position?
Die Impfskepsis ist völlig irrational, hier werden wissenschaftliche Erkenntnisse durch bestimmte Fantasien und Willkür ersetzt.
Im Moment beklagen Impfskeptiker den öffentlichen Druck. Heisst das, zurzeit hat es keinen Platz für skurrile Einzelmeinungen?
Doch. Aber die Gesamtbilanz muss stimmen. Impfkampagnen helfen, eine Herdenimmunität zu erreichen. Wenn genügend Menschen sich impfen lassen, kann es sich eine Gesellschaft leisten, dass sich Einzelne verweigern. Im Moment werden die Bedingungen dafür geschaffen.
«Wenn genügend Menschen sich impfen lassen, kann es sich eine Gesellschaft leisten, dass sich Einzelne verweigern.»
Was passiert, wenn Corona nur noch eine Erinnerung ist?
Ich glaube, wir werden die Jahre 2020 und 2021 nicht so schnell vergessen. Vielen ist bewusst geworden, dass wir zugleich Hilfe und Gefahr füreinander sind. Das wird sich auf viele Bereiche unseres Lebens auswirken. Mit wem wollen wir zusammenleben? Mit wem nicht? Was ist uns wichtig? Unser Umweltverhalten wird ebenfalls ein noch grösseres Thema werden. Pandemien entstehen ja auch deshalb, weil die Habitate von Wildtieren durch menschliches Handeln immer kleiner werden und es dann zur Übertragung von Krankheiten auf Menschen kommt. Deshalb ist es langsam an der Zeit, die beiden Themen Umweltschutz und Pandemie zusammenzubringen.
Das wird doch alles schnell in Vergessenheit geraten, sobald die Pandemie vorbei ist.
Das wäre fatal. Bei zukünftigen Wahlen sollten wir uns immer fragen, ob wir jetzt etwas aus dieser Krise gelernt haben.
Mirjam Comtesse ist Historikerin und arbeitet als Redaktorin im Ressort Bern. Ihre Schwerpunkte sind Bildungspolitik und Religion.
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