Verblüffender Andy MurrayDer eiserne Schotte ist mit 35 Jahren wieder ganz der Alte
2019 wurde er am Australian Open verabschiedet, vier Jahre später gewinnt er dort ein Marathonspiel nach dem anderen – und bricht dabei einen Rekord von Roger Federer.

Als Roger Federer vor dem Australian Open 2019 für einen Beitrag fürs Abschiedsvideo für Andy Murray angegangen wurde, fragte er: «Tritt er wirklich zurück?» Federer machte dann doch mit, neben Rafael Nadal, Novak Djokovic und vielen anderen. «Gratuliere, Kumpel, du hast Schottland und ganz Grossbritannien stolz gemacht. Du bist ein Sir. Wer kann das schon von sich behaupten?», lobte ihn Federer. «Es ist sehr traurig, dass du diese Entscheidung fällen musstest», bedauerte Nadal. Djokovic sagte: «Danke, dass du immer dein Herz auf dem Court gelassen hast.»
Es war ein berührendes Video, das damals nach Murrays Erstrundenniederlage gegen den zähen Spanier Roberto Bautista Agut, einem weiteren epischen Fünfsatz-Fight, in der Rod-Laver-Arena vorgespielt wurde. Murray bedankte sich im Platzinterview, das passenderweise sein früherer Coach Mark Petchey mit ihm führte, artig für die netten Worte. Das Publikum feierte ihn mit Standing Ovations, Mutter Judy filmte alles mit ihrem Handy. Das Ganze hatte nur einen Haken: Andy Murray war gar noch nicht bereit, sich vom Profisport abzuwenden.
Zwei Wochen später liess er sich rechts ein künstliches Hüftgelenk einsetzen, oder genauer: Er liess sich den Hüftkopf abschleifen und mit einer Metallkappe überziehen – eine Alternative zur konventionellen Methode des Totalersatzes, die in der Schweiz üblich ist. Nicht einmal fünf Monate danach gab er am Rasenturnier in Queen’s sein Comeback im Doppel. Eine rekordverdächtig kurze Rehabilitationszeit.
Normalerweise rechnet man nach einer Hüft-OP mit sechs Monaten, ehe man wieder Sport treiben kann. Zwar darf man das Gelenk ab Tag 1 wieder belasten. Doch auch beim minimalinvasiven Eingriff werden die Muskeln und Sehnen verletzt und ist an den betroffenen Stellen alles sensibler. Zudem verändert sich durch die künstliche Hüfte die Biomechanik des Körpers.
Über zehn Stunden für zwei Siege
Vor dem diesjährigen Australian Open sagte der Schotte, es fühle sich nun, vier Jahre nach der Operation, endlich wieder alles normal an. Und als müsste er beweisen, dass er mit 35 Jahren wieder der Alte ist, bestritt er in den ersten beiden Runden zwei Fünfsatz-Marathons: Zuerst verspielte er gegen Matteo Berrettini einen 2:0-Satzvorsprung und kämpfte sich in 4:49 Stunden doch noch zum Sieg, am Freitag früh schaffte er gegen Thanasi Kokkinakis das grösste Comeback seiner Karriere, siegte er nach einem 4:6, 6:7, 2:5 doch noch.
Mit 5:45 Stunden war es sein mit Abstand längstes Spiel überhaupt. Zum elften Mal gewann er nach einem 0:2-Satzrückstand, womit er sich vor Roger Federer schob und eine neue Bestmarke in der Profiära (seit 1968) aufstellte.
Aber wie kam Murray darauf, in den frühen Morgenstunden in Melbourne, noch müde vom vorigen Match, mit einer Metallhüfte, hoffnungslos zurückliegend und dominiert von einem fast zehn Jahre jüngeren Gegner, dass er imstande sei, die Partie noch umzubiegen? Es liegt wohl am unerschütterlichen Glauben an sich, der grossen Champions eigen ist. Wie Murray, wie Nadal, Federer oder Djokovic. Oder wie Stan Wawrinka, der auch mit bald 38 überzeugt ist, nochmals einen grossen Sieg in sich zu haben. Trotz einer weiteren bitteren Niederlage in Melbourne.
Er liebe dieses Spiel einfach, sagte Murray einmal. Doch schaut man ihm beim Tennisspielen zu, hat man nicht das Gefühl, er habe Spass daran. Er hadert konstant mit sich, beschimpft seine Entourage, verwirft die Hände, flucht, schlägt sich an den Kopf oder auf den Oberschenkel. Gegen Kokkinakis wirkte er zweieinhalb Sätze lang steif und übel gelaunt. Erst als seine Aufholjagd begann, lief er zu Hochform auf. Beflügelt vom Adrenalin, das nun seinen Körper durchströmte.
«Ich bin mir bewusst, dass ich nicht besonders happy wirke, wenn ich spiele. Aber meistens bin ich dann am glücklichsten.»
«Ich bin mir bewusst, dass ich nicht besonders happy wirke, wenn ich spiele», sagte er im Platzinterview. «Aber meistens bin ich dann innen drin am glücklichsten.» Mit anderen Worten: Dieser sonderbare Schotte, der oft mürrisch wirkt und doch einen ganz feinen Humor hat, spürt sich erst richtig, wenn er mit sich und der Welt kämpft.
Was Murray gegen Kokkinakis zusätzlich anspornte: dass ihm die Schiedsrichterin um 3 Uhr morgens, als er auf 2:2 Sätze ausgeglichen hatte, eine WC-Pause untersagte. «Es ist so respektlos, dass uns das Turnier bis drei, vier Uhr morgens spielen lässt, aber wir nicht einmal auf die Toilette gehen dürfen. Das ist ein Witz», ereiferte er sich. Dabei hatte er sich 2021 am US Open beim verlorenen Spiel gegen Stefanos Tsitsipas masslos über die WC-Pausen des Griechen genervt und diesen noch am Tag danach in den sozialen Medien attackiert.
Nun wartet wieder Bautista Agut
Die zweite Karriere Murrays darf jedenfalls allen Hüftpatienten eine Inspiration sein. Und sie freut die Mediziner, die diesen Eingriff propagieren. Der Schotte ist der Erste, der mit einem künstlichen Hüftgelenk in einem solch fordernden Sport wie Tennis mit dem ganzen Stop-and-Go wieder auf ein Weltklasseniveau gefunden hat. Und die letzten Tage zeigten: Sein Körper erträgt und absorbiert wieder Extrembelastungen.
Nur acht Stunden nachdem er am Freitag früh die Anlage verlassen hatte, war Murray zurück im Melbourne Park für die Trainingseinheit im Hinblick auf sein Drittrundenspiel gegen Roberto Bautista Agut. Richtig, gegen den Spanier, gegen den er vor vier Jahren sein vermeintlich letztes Profispiel bestritten hatte.
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