Berner FilmemacherDer eigentümliche Kosmos der Gebrüder Zürcher
Die Seeländer Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher sind auf Erfolgskurs: Ihr Film «Das Mädchen und die Spinne» wurde an der Berlinale gleich mehrfach ausgezeichnet.

«Wir müssen manchmal aufpassen, dass unsere Beziehung nicht zu symbiotisch wird», sagt Silvan Zürcher beim Gespräch in einem Berner Kino und blickt zu seinem Zwillingsbruder Ramon. «Ein teils getrennter Freundeskreis hilft.» Bei der Arbeit als Filmemacher ist es für die beiden hingegen undenkbar, getrennte Wege zu gehen. «Es gab nie den Moment, an dem wir uns gefragt haben, ob wir zusammenarbeiten wollen», sagt Ramon Zürcher, «es war eine Art ungeschriebene Selbstverständlichkeit.»
Sie haben beide in Berlin Film studiert, Ramon Regie, Silvan Produktion. Es bestehe ein Grundvertrauen zwischen ihnen, so Silvan. «Wir müssen uns nicht verstellen, können transparent sein. Trotzdem müssen Zuständigkeiten geklärt werden.» Etwa beim gemeinsamen Schreiben des Drehbuchs. Dort habe kurz Unklarheit darüber geherrscht, wer nun die Hauptverantwortung für das Gelingen des Stoffes habe.
Die im Seeland aufgewachsenen und heute in Berlin und Aarberg lebenden Brüder haben ihren ganz eigenen Stil gefunden. Bereits im viel beachteten Erstling «Das merkwürdige Kätzchen» (2013), das von einem Tag im Leben einer Familie erzählt, schufen sie ein faszinierendes Kammerspiel, das die Normen des Erzählens hinterfragte.
Ihr neuestes Werk heisst «Das Mädchen und die Spinne». Die Zwillingsbrüder wurden an der Berlinale 2021 dafür mit dem Regiepreis und dem Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet.
«Katastrophenfilm mit minimaler Katastrophe»
Der Film ist der zweite Teil einer Trilogie und handelt von einer Ära des Zusammenlebens, die zu Ende geht. Als «Achterbahnfahrt in Zeitlupe» wurde er beschrieben, Ramon Zürcher bezeichnet den Streifen als «Katastrophenfilm mit minimaler Katastrophe». Die Geschichte kreist um Lisa und Mara, die zusammen in einer WG wohnen. Als Lisa auszieht, verliert Mara den Boden unter den Füssen. Der Umzug, mit Gefühlsausbrüchen und leisen Enttäuschungen, ist Dreh- und Angelpunkt des Films.
«Es ist ein Ballett zwischen Bewegung und Statik. Der Umzug ist nur das Gerüst dafür», sagt Ramon Zürcher. «Was passiert, wenn eine Erdplatte wegdriftet und die andere zurückbleibt?» Die Enge der vier Wände wird hier wie im Vorgänger spürbar, durch Blicke, die Wände zu überwinden scheinen, und Dinge, die zwischen den Zeilen gesagt werden.
Kopf und Bauch ansprechen
Gedreht wurde in einem Filmstudio in der alten Gurtenbrauerei in Wabern, an der Berner Herzogstrasse und in Berlin. Aber das ist für den Film, der fast ganz in Innenräumen spielt, nicht von Bedeutung: Seine Heimat ist das Universum Zürcher. «Er spielt nicht in einer Stadt mit Postleitzahl, so funktioniert die Geschichte auch universell», sagt Silvan. «Es geht darum, was es bedeutet, ein Mensch zu sein auf dieser Welt», ergänzt Ramon, «das ist teils hochgradig absurd, schräg, ein Wunder.»
Beim Betrachten ihrer Filme und in der Begegnung – im Gespräch ergänzen sie sich spielend, ohne sich je ins Wort zu fallen – ist sofort spürbar: Hier sind Filmbesessene am Werk, die als Jungs VHS-Kassetten mit Filmaufnahmen und Ordner mit Filmbewertungen gefüllt haben. Am Filmemachen interessiert sie nicht die Geradlinigkeit einer Geschichte, sondern der Baukasten, der ihnen zur Verfügung steht.
Die Diskrepanz zwischen Alltäglichkeit und Stilisiertem reizt sie: «Der Moment, wenn eine Art Authentizität in der Künstlichkeit entsteht, weil sich der Zuschauende an die Stilistik des Films gewöhnt hat», sagt Ramon. Etwas, das sich auch in den Dialogen ausdrückt, die teils in einer entrückten Sprache geschrieben sind. «Wie Gedichte oder der Refrain eines Liedes» wirken die eingestreuten «Erinnerungsmonologe», in denen die Figuren mit einer Erzählung ihr Innenleben nach aussen kehren und «Kopf und Bauch der Zuschauenden unterschiedlich ansprechen sollen».
Ein weiteres Stilmittel ist der Fokus auf Gegenstände und Tiere: Ein Kleidungsstück liegt am Boden, der verschüttete Wein tropft vom Tisch, und der Hund schnappt sich einen Schwamm aus der Küche. Bei Ramon und Silvan Zürcher erhalten diese Momente eine Wichtigkeit. «Im klassischen Erzählkino ist oft sehr klar, wer die Protagonisten sind und wer Randfigur. Bei uns nicht. Wir rücken auch eine zu Ende gerauchte Zigarette ins Spotlight, weil sie in Bezug auf eine vorangegangene Szene durchtränkt ist von Vergänglichkeit», so Silvan.
Bald schon ein Erotikthriller?
Ihr nächster Film «Der Spatz im Kamin» sei eine fast destruktive Befreiungsgeschichte, «ein Kammerspiel in verschiedenen Kammern», in dem der Kosmos auf ein ganzes Dorf ausgeweitet wird. Es ist der letzte Teil der Tier-Trilogie, die sich um menschliche Abgründe dreht. Was hat es mit dem Kätzchen, der Spinne und dem Spatz auf sich? «Tiere berühren uns», so Ramon, «manchmal mehr als Menschen. Sie sind ungekünstelt.»
Es sei faszinierend, zu beobachten, was passiere, wenn sie auf die Schauspielerinnen und Schauspieler losgelassen würden, wenn das Chaos auf das Kontrollierte treffe. Zugleich würden sie für gewisse Eigenschaften der Figuren stehen, etwa die Spinne, die sich überall ein neues Zuhause bauen kann, unabhängig ist und zwischen Ekel und Fragilität changiert.
«Unsere Filme werden wohl immer unsere eigentümliche Handschrift tragen, wir können ja nicht aus unserer Haut», sagt Ramon, «aber wir möchten keinesfalls eine Zwangsjacke anziehen.» Horrorfilme etwa seien ein Genre, das sie sehr interessiere. Ein Drehbuch mit dem Namen «Die junge Frau mit dem Brecheisen» sei in Arbeit – «und Silvan schreibt an einem Erotikthriller», fügt der Zwillingsbruder schmunzelnd an.
«Das Mädchen und die Spinne» ist in Bern ab dem 13. Mai in den Kinos zu sehen.
* Dieser Text von Sarah Sartorius, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb-und-Hans-Vogt-Stiftung realisiert.
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