Der bestandene Mentalitätstest und die Dummheiten
Die Schweizer zeigen beim 2:1 gegen Serbien grossartige Moral. Aber mit den Gefühlen sind auch unnötige Gesten verbunden.
Auf einmal ist er nicht mehr zu halten. Die 90. Minute läuft, als Xherdan Shaqiri davonzieht, perfekt bedient von Mario Gavranovic, und Meter um Meter zurücklegt. Schliesslich schiebt er den Ball an Stojkovic vorbei ins Tor. Es ist ein Tor, das an Kubilay Türkyilmaz aus dem Jahr 1991 in Bulgarien erinnert, wunderbar in Entstehung und Abschluss.
Der Ausbruch der Gefühle ist immens, auf dem Platz, auf der Bank. Das Tor sichert der Schweiz das 2:1 und drei Punkte gegen Serbien, die von entscheidender Bedeutung sind. Jetzt hat die Schweiz gar die Chance auf Platz 1 in der Gruppe. Dafür braucht es einen Sieg gegen Costa Rica und ein Remis zwischen Brasilien und Serbien. Die Ausgangslage ist derart komfortabel, dass die Schweizer auch bei einer Niederlage am nächsten Mittwoch weiterkommen, wenn Brasilien gleichzeitig gewinnt.
Mit den Gefühlen sind an diesem Abend von Kaliningrad auch Dummheiten verbunden. Shaqiri zeigt den serbischen Zuschauern den Doppeladler, das Zeichen für Albanien, Xhaka hechtet hinterher und macht ihn ebenfalls, Behrami schreit Richtung Tribünen. Seht nur her!, wollen die Spieler sagen, wir sind die Sieger!
Die Adler-Geste heizt nur wieder Diskussionen an, die schon einmal geführt wurden, die nicht nötig sind und die diese Mannschaft nicht gebrauchen kann, gerade jetzt nicht. Nur machen sie auch deutlich, wie emotional dieser Match doch gewesen ist für die Fraktion der albanisch-stämmigen Schweizer aus Kosovo.
Xhaka hat sich schon früher reizen lassen. Die 53. Minute läuft, Shaqiris Schuss wird von Kolarov geblockt, der Abpraller landet genau da, wo Xhaka angerannt kommt, 20 m vor dem Tor, und Xhaka schiesst, wuchtig und präzis, er trifft in die Ecke, dreht ab und leistet sich beim Jubeln einen Aussetzer: Er zeigt den serbischen Zuschauern ein erstes Mal den Adler.
Video: Ein Hammer zum 1:1-Ausgleich für die Schweiz
Es ist ein Abend, der Kraft kostet, der Nerven kostet. Er wird zu dem Mentalitätstest, der zu erwarten war. Die Schweizer machen am Anfang den Eindruck der Überforderung, sie stehen fast neben sich. Den ersten Schaden kann Sommer gegen Mitrovic noch abwenden, ein paar Sekunden später ist er chancenlos: Wieder ist Schär überfordert im Zweikampf mit Mitrovic. Seinen Anteil an diesem frühen Tor hat Zuber mit seinem verpatzten Dribbling vor dem eigenen Sechzehner.
Die erste Viertelstunde lässt nichts Gutes erahnen für die Schweiz. Trotzdem macht sie einen ersten kleinen Schritt, um sich zu befreien. Dzemaili bietet sich eine grosse Chance zum Ausgleich, er verzieht seinen Schuss, wie so oft. Derselbe Dzemaili ist es, dem sich nach einer halben Stunde die beste Möglichkeit überhaupt bietet. Doch diesmal scheitert er aus sechs Metern am serbischen Goalie. Er beweist, dass Toreschiessen nicht seine Stärke ist.
Die Schweiz hat bis zur Pause ein grosses Problem. Sie spielt nur zu zehnt, Haris Seferovic ist die Fehlbesetzung, die gerade einmal drei Bälle zugespielt bekommt. In der Pause korrigiert Vladimir Petkovic seinen Fehler mit 45-minütiger Verspätung. Er wechselt Gavranovic ein, und ein neues Spiel beginnt.
Nicht, dass die Schweizer jetzt gleich zu einer Chance nach der anderen kommen, das nicht. Aber ihre Körpersprache drückt nur eines aus: Wir wollen gewinnen. Wir lassen uns von den Dauerpfiffen der serbischen Fans nicht aufhalten. Die Schweizer sind auf dem ganzen Platz präsent, sie zeigen grosse Moral. Behrami kämpft, wie ein Behrami kämpft.
Shaqiri wie zuletzt 2016
Vor allem zeigen Xhaka und Shaqiri eine Reaktion auf die Kritiken nach dem Match gegen Brasilien. Es ist kein Zufall, dass Xhaka alle Kraft und alle Wut in den Schuss legt, der zum Ausgleich führt.
Shaqiri hat jetzt die Phase hinter sich, in der er das Gefühl hat, er müsse als Schauspieler unterwegs sein. Zweimal lamentiert er, einmal legt er sich grundlos flach. Aber dann wird er zum Shaqiri, wie er seit zwei Jahren und dem Achtelfinal gegen Polen nicht mehr zu sehen war. Er rennt und dribbelt, schlägt gute Pässe und schiesst einmal so gut, dass der Ball den Pfosten streift.

Lichtsteiner ringt Mitrovic nieder und kommt mit Glück ohne Elfmeter davon, Mitrovic verpasst eine Hereingabe von Kolarov. Das sind die heikelsten Szenen, die sich im Schweizer Strafraum zutragen. Die Schweizer bleiben entschlossen, sie kontern, wenn immer es geht. Sie tun es mit zu wenig Präzision, sonst wäre Gavranovic nicht zweimal in guten Momenten ins Offside gelaufen.
Dann kommt die 90. Minute. Und Shaqiri sagt schliesslich: «Vor ein paar Jahren hätten wir ein solches Spiel nicht mehr gedreht.»
Video: Und dann flippen die Schweizer Fans aus
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