Der Bergbuchsteiger
Die Art, wie wir die Berge sehen und uns in ihnen bewegen, hängt davon ab, wie über Berge geschrieben wird. Kaum jemand hat mehr dazu zu sagen als der Stadtberner Historiker Daniel Anker.

«Ja, unglaublich!», ruft Daniel Anker. Sein Enthusiasmus für jeden Buchstaben, der über Berge und Bergsteiger geschrieben wird, erfüllt sein Büro. Akustisch und materiell. Wie senkrechte Felswände steigen die prall gefüllten Büchergestelle zur Decke. In der Bibliothek im ersten Stock seines Hauses in der hinteren Länggasse, wo Anker mit seiner Frau lebt, fühlt man sich wie in einem Basislager – mitten in der Stadt Bern, mitten in den Bergen.
Anker (64) nimmt jetzt einen Band des «Jahrbuchs des Schweizer Alpenclubs» aus einer Beige. Er strahlt, als stünde er gerade auf einem Gipfel, begeistert von der Textstelle, die er sofort vorliest. Geschrieben hat sie der multitalentierte Carl Seelig, Schweizer Seidenfabrikant und nebenbei waghalsiger Alpinist mit spitzer Feder.
Seelig beschreibt, wie er im Januar 1890, mit einem Freund und zwei Bergführern, zu einer Winterbesteigung des Mönchs unterwegs ist. Der Gipfelgrat messerscharf, die Kälte schneidend, die Füsse in feuchten Lederschuhen. Akute Gefahr von Erfrierungen. Trotzdem, rezitiert Anker Seeligs Schreibe, freue sich dieser vor allem auf «ein kühles Bier» nach vollbrachtem Effort, zurück im Tal in der Beiz.
«Unglaublich!», ruft Anker, Seeligs Humor könnte sein eigener sein: «Der hat eiskalte Füsse und denkt ans gekühlte Bier.»
«Siebensiechig» – oder nicht
Das sei Bergschriftstellerei, an der er sich kaum sattlesen könne, sagt Anker. Weil sie mit einer Selbstironie versetzt sei, die das lebensgefährliche Tun über dem Abgrund vom «siebensiechigen Heldensockel» hole. Im 19. Jahrhundert habe es am Berg eher mehr Meister der Lakonie gegeben als heute, nicht nur im deutschsprachigen Raum.
«Es gibt Berge, die kommen nach unten, es gibt Berge, die bleiben oben.»
Auch den Bergroman «Tartarin in den Alpen» des französischen Schriftstellers Alphonse Daudet schlägt Anker immer gerne auf, wegen der frechen Seitenhiebe, die sich dieser im 19. Jahrhundert leistete. In den Schweizer Bergen falle man sanft auf federweichen Schnee, wenn man in eine Gletscherspalte stürze, wird dem Alpintouristen Tartarin erzählt. Und wenn man bequem dort unten liege, renne sofort ein Portier herbei, um zu fragen, ob der Herr auch Gepäck habe. Die Schweizer Alpen, ein Paradies von Luxus und Bequemlichkeit! «Einfach grossartig», kommentiert Anker.
Die populäre Blümlisalp
«Mich interessieren die Berge wegen der Geschichten, die sich an ihnen abspielen. Die bekannten, aber mindestens so sehr die vergessenen und verschwiegenen», sagt der Historiker. Der Fundus sei unerschöpflich, sagt Anker, je tiefer er grabe, desto mehr komme zum Vorschein. Auch jetzt noch, nach vierzig Jahren Beschäftigung mit dem Thema. Er kenne keinen Bereich, über den so viel publiziert werde wie über Berge – und er habe nicht den Eindruck, dass der Output kleiner werde. Im Gegenteil.
«Es gibt Berge, die kommen nach unten, es gibt Berge, die bleiben oben», sagt Anker. Das Bietschhorn, der prachtvolle Berg über dem Lötschental, interessiere bis heute nur Bergsteiger. Die Blümlisalp mit ihren sieben Gipfeln, über die in drei Wochen eine Monografie erscheint, die Anker zusammen mit Marco Volken verfasst hat, sei ein Berg, der «nach unten gekommen ist», weil er sich seit je im Alltag manifestiert: Die überlieferte Blümlisalp-Sage geisselt den menschlichen Hochmut, auf dem Thunersee kreuzt das Dampfschiff Blümlisalp, Polo Hofer führte den eisbedeckten Gipfel in einer Sommernacht in die Popkultur ein.
Bergsteigen – ein Statement
Woher kommt unsere unstillbare Obsession nach Berggeschichten? «Ich habe keine eindeutige Antwort», sagt Experte Anker. Ein wichtiger Faktor: In alles, was an einem Berg passiert, fliessen politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche Entwicklungen ein. Ganz automatisch, denn: Weil das Publikum nicht live dabei sein kann, braucht Alpinismus immer ein Storytelling. Damit hauchen die Autoren der letztlich sinnlosen Ambition, trotz ständiger Absturzgefahr Berge zu besteigen, einen Sinn ein. Ihren Sinn.
Man könnte auch sagen: Wer einen Berg besteigt, gibt immer auch ein Statement ab. Und setzt sich damit der öffentlichen Auseinandersetzung aus.
Zu Pionierzeiten bauten Erstbesteiger ein Steinmännchen auf oder rammten einen Stock mit Fähnchen ins Gipfeleis, das vom Tal aus durchs Fernrohr sichtbar sein musste. Heute gilt meist das Gipfelselfie als Pionierbeleg – der Grat zwischen Fiktion und Realität bleibt schmal, der Raum für dramatische Storys riesig. «Gehe ich mit einem Kameramann los, heisst es, ich mache das nur für die Medien oder fürs Geld. Gehe ich ohne Kameramann, wird an meinen Begehungen gezweifelt», brachte Ueli Steck, 2017 tödlich verunfallter Spitzenalpinist, seinen inneren Zwiespalt auf den Punkt.
Die Aiguille du Pissoir
Nach der Matterhorn-Erstbesteigung 1865 stürzten vier der sieben Seilschaftsmitglieder beim Abstieg in den Tod, die von Expeditionsleiter Edward Whymper niedergeschriebene Heldenstory wird bis heute immer wieder mehr oder minder angezweifelt. 1938 berichteten Korrespondenten live von der Kleinen Scheidegg, als eine deutsch-österreichische Seilschaft, begleitet von der Propaganda der Nationalsozialisten, erstmals die Eigernordwand durchstieg. Moderne Spitzenalpinisten sind meist Ich-AGs, die ihre riskanten Besteigungsprojekte als aufwendig inszenierte Fotostorys produzieren, die von der wachsenden Outdoorindustrie in der Kundenkommunikation eingesetzt werden.
Wer einen Berg besteigt, gibt immer auch ein Statement ab. Und setzt sich damit der öffentlichen Auseinandersetzung aus.
Das ist Daniel Ankers unerschöpflicher Stoff. Er überblickt die Entwicklung von der Bergeroberung der Engländer über die politische Instrumentalisierung des Alpinismus bis zur industriellen Freizeitnutzung der Berge von heute wie kein Zweiter.
Wenn jemand am Berg steht, ist Ankers Expertise gefragt: Auf dem Gornergrat ob Zermatt inszeniert das Alpine Museum in einer Ausstellung das Matterhorn noch bis zum Oktober als grössten Bücherberg – über keinen Berg wurde mehr geschrieben. Die ausgestellten Bücher stammen aus Daniel Ankers einzigartiger Bibliothek. Als das Schweizer Fernsehen die «Alpenreise»-Serie plante, die TV-Moderatorin Sabine Dahinden in die Walliser und Berner Hochalpen führte, rief man auch bei Anker an. Logisch. Er hätte es witzig gefunden, erzählt er lachend, wenn die TV-Seilschaft im Trient-Gebiet nicht die Aiguilles du Tour bestiegen hätte, sondern die Aiguille du Pissoir. Wegen des Sprachwitzes – versteht sich.
Gipfel ohne Google
Daniel Anker selber ist kein Spitzenalpinist, aber es gibt in der Schweiz wohl niemanden, der mehr auch für normale Berggänger machbare Touren entdeckt und mit seinen Beschreibungen zugänglich gemacht hat – inklusive akkurater Beizentipps für das kühle Bier. Als freier Reisejournalist und Bergpublizist verfasste er mehr als zwei Dutzend Skitouren-, Wander-, Klettersteig- und Radführer. Das Buch über die Blümlisalp ist seine 13. Berg-Monografie. Seit bald zehn Jahren bespricht er in seinem Blog www.bergliteratur.ch «Ankers Buch der Woche».
Zu Fuss in die Berge zu gehen, sei bei der jungen Generation «ein absoluter Trend», der ihn sehr freue, sagt Anker. Er hat sogar den Eindruck, eine Art neuen Erstbesteiger-Boom zu beobachten. Nicht an exponierten Gipfeln, sondern «in der Wildnis vor der Haustüre». Websites wie Hikr.org, auf der Berggänger ihre Touren beschreiben, befeuerten den Ehrgeiz, kurze Touren auf kaum beachtete Hügel zu publizieren und die Aufmerksamkeit auf Ziele in der Nähe zu lenken.
Die neue Freude, eigene, unspektakuläre Wege in der Nähe zu gehen, ist ganz nach Ankers Geschmack. Ab und zu gönnt sich der Bergexperte einen stillen Triumph: Wenn er irgendwo auf einem Gipfel steht, so unscheinbar er auch ist, und es gibt auf Google noch keinen Eintrag darüber. Keinen einzigen.
Dann ist Daniel Anker am richtigen Ort.Daniel Anker, Marco Volken: «Blüemlisalp – Schneezauber und die sieben Berge». 200 Seiten, 200 Abbildungen und Fotos. Hardcover. AS-Verlag. 49.80 Franken.
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