Das ist der beste Brexit-Roman
Jonathan Coe beschreibt in «Middle England», wie ein Land erst den Kopf und dann komplett die Orientierung verliert.

Am Tag der Trauerfeier für seine Mutter sitzt Benjamin Trotter im Erker einer umgebauten Mühle, die er allein bewohnt, blickt auf den mondbeschienenen Fluss und hört den traurigen Folksong «Adieu to Old England». Er denkt an das «Gefühl von Benachteiligung», das in England allenthalben zu spüren ist, «diesen Hass auf das finanzielle und politische Establishment» und die «stille Empörung der Mittelschicht, die sich an Behaglichkeit und Wohlstand gewöhnt hatte und jetzt merkte, dass ihr das alles entglitt».
Diese Gefühle sind Ausgangslage und Humus für die Spaltung, die «Middle England» thematisiert, der jüngste Roman des Briten Jonathan Coe. Er spielt in einem England der Wütenden und der Rassisten, der Abgehobenen und der Weltfremden, der Ressentiments und der Frustrationen. Also im Land des Brexit.
«Middle England» steht für das «wahre», ländliche Mittelschicht-England der Cricket Greens und normannischen Kirchlein jenseits der grossen Städte. Der Roman mit diesem Titel ist der dritte einer so nicht geplanten Trilogie. Die beiden vorangehenden Bände, «Erste Riten» (2002) und «Klassentreffen» (2006) hatten die gleichen Zentralfiguren. Da sind neben Ben Trotter, dem verträumten Autor, sein bester Freund Philip Chase, Verleger für Bücher über Heimatkunde, und Doug Anderton, ein prototypisch linksliberaler Journalist.

Das Original von «Erste Riten» hält angeblich den Rekord für den mit 13'955 Wörtern längsten Satz der englischsprachigen Literatur. In einer Reminiszenz an diesen Rekord spekuliert Ben in einem der Kapitel von «Middle England», das aus einem einzigen Stream-of-Consciousness-Satz besteht, darüber, ob man sich als Autor engagieren oder in die innere Emigration flüchten solle.
Die Frage hat Coe sich auch selbst gestellt. Er beantwortet sie mit dem, was im englischen Sprachraum eine «state of the nation novel» genannt wird, eine fiktional überbaute Dokumentation der Jahre unmittelbar vor und nach dem britischen EU-Referendum. «Middle England» hat den Ehrgeiz, als Gründungswerk des jungen Genres namens Brexit-Roman zu dienen. Benjamin Trotter, der «beste unveröffentlichte Autor des Landes», ist mittlerweile Anfang 50. In seiner Mühle schreibt er weiter an einem unendlich langen Buch. Sein Freund Doug arbeitet als Zeitungskolumnist, entfremdet von seiner reichen Frau, deren Wohnung in Chelsea er aber gerne weiter nutzt – er ist Repräsentant der London-zentrischen «chattering class», ein Lieblingsfeindbild der brexitfreundlichen Rechts- und Linkspopulisten. Diese mittelalten, liberalen Männer finden sich plötzlich umzingelt von immer mehr kleingeistigen, rückwärtsgewandten Menschen, die sie ins Brexit-Verderben zerren.
Ein komplexes erzählerisches Geflecht
Wie dies geschieht, das fasst Coe in ein erzählerisches Geflecht, das in seiner Komplexität an die viktorianischen Monolithe Anthony Trollopes erinnert und das im Einzelnen nachzuvollziehen nur unwesentlich weniger Raum einnehmen würde als das Buch selbst.
Letztlich tritt das Zwischenmenschliche aber auch hinter dem Historischen zurück. «Middle England» setzt den Schwerpunkt bei den konkreten Ereignissen zwischen 2010 und 2018, die Coe akribisch abarbeitet: Da sind der Finanzcrash, die Bildung der konservativ-liberalen Koalitionsregierung von 2010, die Londoner Unruhen im Sommer 2011 und die Olympischen Spiele im Jahr danach, die Wahl Jeremy Corbyns zum Labour-Chef, der rechtsterroristische Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox, der Referendumsschock und die darauffolgenden, immer erbitterter werdenden inner- und ausserparlamentarischen Grabenkämpfe.
Die Figuren werden dabei zu Platzhaltern für politische Positionen im Ringen um die britische Identität. Das gilt besonders für die Brexit-Befürworter. Bens Vater Colin zum Beispiel, der früher in einer Autofabrik bei Birmingham arbeitete und als Witwer noch unausstehlicher geworden ist. Colin ist ein «Gammon» (Kochschinken): So wird seit ein paar Jahren eine bestimmte Sorte älterer, weisser, männlicher Engländer genannt. Sie sind gegen Immigration und haben wegen ihres oft alkoholbedingten hohen Blutdrucks saftig schinkenfarbene Gesichter.
In kommenden Zeiten wird dieser Roman vielleicht als Referenzwerk für historische Details dienen.
Helena, die Schwiegermutter von Bens Nichte Sophie, ist die grossbürgerliche Variante, eine Euroskeptikerin, die ihre osteuropäische Haushaltshilfe ausnutzt und verachtet. Ihr Sohn Ian, Sophies Mann, scheint erst weltoffener zu sein. Sein rassistisches Ressentiment bricht jedoch durch, als ein dunkelhäutiger Kollege ihm bei einer Beförderung vorgezogen wird.
Nun spiegeln diese kleinkarierten Archetypen zwar durchaus die Wirklichkeit eines Landes, das Ende vergangenen Jahres einen mit rassistischen Klischees spielenden Lügner wie Boris Johnson zum Premierminister erkor. Aber als Leser von «Middle England» wünscht man sich oft, die literarische Umsetzung wäre weniger zugespitzt als die Realität, die in Brexit Britain ja schon länger unglaublicher ist als jede Fiktion.
In kommenden Jahrzehnten, wenn die Einzelheiten der Brexit-Konvulsionen von neuen Katastrophen verdrängt worden sein werden, wird «Middle England» vielleicht als Referenzwerk für historische Details dienen. Als Roman bleibt es etwas zu schematisch. Aber es bietet die bisher beste Bestandsaufnahme einer Epoche, in der ein Land erst den Kopf und dann komplett die Orientierung verlor.

Jonathan Coe: Middle England. Roman. Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Folio, Zürich 2020. 480 S., ca. 38 Fr.
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