Gedrosselte Gas-Lieferungen aus Russland«Situation ist ernst»: Deutschland und andere Länder reaktivieren Kohlekraftwerke
Deutschland, Österreich und Holland droht wegen gedrosselter Lieferungen aus Russland ein Gas-Engpass. Nun sollen Kohlekraftwerke wieder hochgefahren werden, um Energie zu gewinnen.

Deutschland soll sich nach dem Willen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) durch Einsparen von Gas und ein milliardenschweres Kaufprogramm gegen einen möglichen russischen Lieferstopp wappnen. Das geht aus einem Papier hervor, das sein Ministerium am Sonntag vorlegte. Man werde den Gasverbrauch zur Erzeugung von Strom und in der Industrie verringern und stattdessen verstärkt die Gasspeicher befüllen, erklärte Habeck am Sonntag.
«Noch können die ausfallenden Mengen ersetzt werden, noch läuft die Befüllung der Gasspeicher, wenn auch zu hohen Preisen. Die Versorgungssicherheit ist aktuell gewährleistet. Aber die Situation ist ernst», sagte Habeck. Man müsse jetzt vorsorgen, den Verbrauch verringern und Gas bevorraten, «sonst wird es im Winter wirklich eng».

Habeck und seine Partei hatten sich in der Vergangenheit vehement für einen schnelleren Ausstieg aus der Verstromung von Kohle eingesetzt. Aber: «Die Gasspeicher müssen zum Winter hin voll sein. Das hat oberste Priorität», sagte Habeck. Gas trug im vergangenen Jahr etwa 15 Prozent zur öffentlichen Stromerzeugung bei, der Anteil dürfte in den ersten Monaten dieses Jahres jedoch schon geringer gewesen sein.
Kohleausstieg 2030 soll bleiben
Habeck will zudem den Gasverbrauch der Industrie senken. Der Wirtschaftsminister will Anreize setzen, damit Industriebetriebe, welche am ehesten auf Gas verzichten können, dies auch umsetzen. Noch im Sommer soll hierzu ein Auktionsmodell an den Start gehen. Das eingesparte Gas soll dann ebenfalls für mögliche Engpässe im Winter gespeichert werden. Gas ist in Deutschland nicht nur für das Heizen von Wohnungen wichtig, sondern auch in vielen Industriebetrieben unverzichtbar, etwa bei der Herstellung von Glas. «Alles, was wir weniger verbrauchen, hilft. Hier ist die Industrie ein Schlüsselfaktor», sagte Habeck.

Markus Krebber, Chef von Deutschlands grösstem Stromerzeuger RWE, sagte der Süddeutschen Zeitung: «Überall, wo man auf andere Energieträger umstellen kann, sollte das erfolgen.» RWE betreibt grosse Gas- und Kohlekraftwerke in Deutschland, Grossbritannien und den Niederlanden. Krebber unterstützte Habecks Plan, für die Stromerzeugung nun so schnell wie möglich Kohlekraftwerke zu nutzen statt Gaskraftwerke.
Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, begrüsste ebenfalls das von Habeck geplante Hochfahren von Kohlekraftwerken zur Gaseinsparung. «Es ist völlig richtig, dass der technisch komplizierte Ausstieg aus dem russischen Gas vorbereitet wird, um möglichen Liefereinschränkungen durch Gazprom etwas entgegenzusetzen», sagte er der «Rheinischen Post». Hüther verwies darauf, dass die Industrie – Chemie, Glas, Papier, Stahl und vor allem Nahrungsmittel – kurzfristig die komplizierten Anpassungen kaum leisten könne.
Scholz räumt zu grosse Abhängigkeit von Russland ein
Die Bundesnetzagentur bezeichnete die Lage bei der Gasversorgung am Samstag als «angespannt», aber «stabil». Derzeit könne weiterhin mehr Gas gespeichert werden, als aus den Vorräten entnommen werden müsse, die russischen Ausfälle werden durch Lieferungen aus anderen Ländern ersetzt, etwa aus den Niederlanden und Belgien. Die aktuellen Füllstände der Speicher in Deutschland liegen demnach bei fast 57 Prozent. Laut Gesetz müssen die Speicher zum 1. Oktober zu 80 Prozent gefüllt sein, zum 1. November zu 90 Prozent. Der Gasverbrauch ist stark von der Temperatur abhängig. Der Bedarf im Winter ist etwa achtmal höher als im Sommer.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) räumte derweil Fehler im Umgang mit Russland ein. Auf die Frage nach möglichen Versäumnissen seiner Vorgängerin Angela Merkel (CDU) sagte Scholz zwar, der Versuch einer Aussöhnung «kann nie falsch sein und der Versuch, friedlich miteinander zurechtzukommen, auch nicht». An dem Punkt sehe er sich eng an der Seite seiner Vorgängerin. Es sei aber ein Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik gewesen, «dass wir unsere Energieversorgung zu sehr auf Russland konzentriert haben, ohne die nötige Infrastruktur zu bauen, dass wir im Falle eines Falles schnell umsteuern können».
Österreich will abgeschaltetes Kohlekraftwerk reaktivieren
Angesichts der gedrosselten russischen Gaslieferungen hat auch Österreich beschlossen, ein abgeschaltetes Kohlekraftwerk zu reaktivieren. Betroffen ist das Fernheizkraftwerk im südösterreichischen Mellach südlich von Graz.
Das Bundeskanzleramt in Wien gab am Sonntag bekannt, die Behörden und der grösste österreichische Stromerzeuger, der Verbund-Konzern, arbeiteten daran, das Kraftwerk wieder für den Betrieb mit Kohle zu rüsten. Oberstes Ziel sei es, die Gasversorgung Österreichs sicherzustellen, sagte der österreichische Kanzler Karl Nehammer am Sonntag.

Die Entscheidung traf die von Nehammer geführte konservativ-grüne Bundesregierung nach einer Sitzung des Krisenkabinetts zu den gedrosselten Gaslieferungen aus Russland. Mitte Juni lag die Füllmenge der österreichischen Gasspeicher erst bei 39 Prozent.
Das nahe Graz in der Steiermark gelegene Kraftwerk Mellach war im Frühjahr 2020 als letztes Kohlekraftwerk Österreichs vom Netz genommen worden. Die Abschaltung war Teil der österreichischen Klimaschutz-Strategie mit dem Ziel, 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Mit der nun beschlossenen Reaktivierung soll in Mellach im Notfall wieder Energie aus Kohle gewonnen werden. Laut der Nachrichtenagentur APA dauert die Umrüstung aber mehrere Monate.
Bundeskanzler Nehammer erklärte, es gehe Österreich darum, das fehlende russische Gas mit anderen Quellen oder anderen Lieferanten zu ersetzen.
Niederlande heben Beschränkungen auf
Auch die Niederlande wollen wegen der gedrosselten russischen Gaslieferungen verstärkt auf Kohlekraftwerke setzen. Energieminister Rob Jetten kündigte am Montag in Den Haag die Aufhebung aller zuvor beschlossenen Beschränkungen für Kohlekraftwerke an. Die Kraftwerke «können damit wieder mit voller Kapazität laufen statt mit maximal 35 Prozent», sagte er. Die Regierung rief zudem die erste Phase einer Gas-Krise, die Frühwarnung, aus.
Der russische Energiekonzern Gazprom hatte im Mai seine Lieferungen in die Niederlande gestoppt. Er begründete dies mit der Weigerung des niederländischen Energieversorgers Gasterra, in Rubel zu zahlen. Jetten betonte, derzeit gebe es keine akute Gas-Knappheit. Allerdings sei die niederländische Regierung wegen des zunehmenden Drucks Russlands «besorgt».
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