Mythos «Immunschuld»Das Immunsystem ist kein Muskel
Schwächelt das Immunsystem, wenn es sich nicht gegen Krankheitserreger verteidigen muss? Weshalb diese Idee so problematisch ist.

Praktisch der gesamte Bekanntenkreis klagt gerade über irgendeinen Infekt. Corona, RSV, Influenza, der ordinäre Schnupfen – an Erregern herrscht kein Mangel, und der Blick in die Statistiken unterfüttert das Bauchgefühl. Wie es dazu kommen konnte, ist für die meisten Fachleute nicht mit einer simplen Antwort zu erklären.
Sicherlich spielt eine Rolle, dass Saison für viele Krankheitserreger ist, die immer im Winter um sich greifen. Auch werden Infektionen nachgeholt, die in den vergangenen Jahren wegen der Corona-Schutzmassnahmen nicht stattgefunden haben. Und schliesslich könnten auch die zurückliegenden Corona-Infektionswellen dazu beigetragen haben, dass sich gerade so viele Menschen mit anderen Erregern infizieren. «Viele Aspekte tragen zu der aktuellen Erkrankungswelle bei», sagt die Infektiologin Jana Schroeder, Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der deutschen Stiftung Mathias-Spital. Aber durch Corona-Schutzmassnahmen geschwächte Immunsysteme zählt sie klar nicht dazu.
Gedächtnis ist die bessere Analogie für das Immunsystem
Wenn man sich unter Eltern von schulpflichtigen oder von Kindergartenkindern oder in den sozialen Medien umhört, scheint die Sache viel einfacher zu sein. Die Immunabwehr sei geschwächt, heisst es, weil durch Masken und andere Corona-Massnahmen das regelmässige Training mit Krankheitserregern gefehlt habe. Richtig sei zwar, dass wegen der Schutzmassnahmen in den ersten zwei Pandemiejahren weniger Krankheitserreger zirkuliert seien und es weniger Infektionen gegeben habe, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Doch die Vorstellung, dass das Immunsystem dadurch schwächer geworden sei, führe in die falsche Richtung. «Das suggeriert, man müsse das Immunsystem trainieren wie einen Muskel, damit es funktioniert. Das ist aber nicht so.»
Eine passendere Analogie ist das Gedächtnis. Spezialisierte Zellen der Immunabwehr merken sich einzelne Krankheitserreger nach einer ersten Infektion und können sie anschliessend schneller bekämpfen. Dann bricht eine Krankheit nicht mehr oder nur mit milderen Symptomen aus. Manche Erreger vergisst die Immunabwehr mit der Zeit wieder, es ist, als würden deren Fahndungsbilder in der molekularbiologischen Kartei der Immunzellen verblassen. Oder die Erreger wandeln sich und bleiben deshalb zunächst unerkannt.
Diese biologischen Tatsachen ignorierend, wird von einer «Immunschuld» geraunt, die sich durch fehlenden Kontakt mit Krankheitserregern in den ersten Pandemiejahren aufgebaut und die Immunabwehr generell geschwächt habe. Bis vor wenigen Wochen kannten Carsten Watzl und Jana Schroeder diesen Begriff gar nicht. Und auch für die Virologin Isabella Eckerle, die das Zentrum für neuartige Viruserkrankungen an den Universitätskliniken Genf leitet, gehört das Wort nicht zum geläufigen Fachvokabular: «Das ist kein wissenschaftlicher Begriff. Jeder stellt sich darunter etwas anderes vor, es wird viel unter dem Begriff verbucht, was mehr Theorie als Wissenschaft ist.»
Permanent von Viren, Bakterien und Pilzsporen umgeben
Es ist nicht überraschend, dass der Begriff unter Fachleuten nicht gebräuchlich ist. Denn bis August 2021 gab es ihn gar nicht. Damals erschien ein Fachartikel, in dem eine französische Forschergruppe spekulierte, durch die verminderte Zirkulation von Krankheitserregern und niedrigere Impfraten könnte sich in den ersten beiden Pandemiejahren eine «Immunitätsschuld» aufgebaut haben. Wie das biologisch funktionieren könnte, dass das Immunsystem schwächer wird, wenn es sich nicht mit Krankheitserregern auseinandersetzen muss, erklärte die Autorengruppe allerdings nicht. Dass der Mensch permanent von Viren, Bakterien und Pilzsporen umgeben ist, dass auch sämtliche Corona-Schutzmassnahmen die Umgebung nicht sterilisieren konnten und somit das Immunsystem permanent gefordert war, wird in dem Aufsatz ebenfalls nicht diskutiert.
«Wachsen durch Infektion, das ist eine sehr anthroposophische Ansicht.»
Und doch übt das Konzept der vermeintlichen Infektionsschulden offenbar einen so starken Reiz aus, dass viele der Erzählung glauben. «Wachsen durch Infektion, das ist eine sehr anthroposophische Ansicht», sagt die Infektiologin Jana Schroeder. «Und früher, als man es nicht besser wusste, ergab das auch Sinn. Ein paar haben die Infektion nicht überstanden, doch die, die es geschafft haben, waren vor dem Erreger meist gefeit.» Also stärker geworden, wenn man so will.
Um Missverständnissen entgegenzutreten, spricht Isabella Eckerle lieber von der «Immunitätslücke», die durch Maskentragen und Abstandsregeln entstanden sei. «Übrigens ein guter Beweis dafür, dass die Massnahmen funktioniert haben», sagt sie. Dadurch verblassten die Erkennungsmerkmale einiger Erreger im Immungedächtnis und müssen wieder aufgefrischt werden. «Wir sollten aber nicht vergessen, weswegen es die Maskenpflicht und andere Regeln gab.» Diese seien sinnvoll gewesen, um Corona-Infektionen zu verhindern, «auch wenn sich heute zeigt, dass dadurch die gewohnten Infektionsrhythmen durcheinandergeraten sind und es eine Weile dauern wird, bis sich das wieder normalisiert.» Eckerle vergleicht die Situation mit der Einschulung von Kindern. «Wenn zwei Jahrgänge nicht eingeschult werden, dann gibt es im dritten Jahr sehr volle Klassen.» Für einige Infektionen gebe es einen solchen Nachholeffekt.
Von den Masern ist bekannt, dass eine Infektion das Immunsystem nachhaltig schädigt, die Viren stören das Immungedächtnis.
Doch dieser Effekt genügt nach Auffassung vieler Fachleute nicht, um das aktuelle Infektionsgeschehen zu erklären. Die zurückliegenden Corona-Wellen könnten auch eine Rolle dabei spielen. «Jede Infektion bringt ein gewisses Risiko, das Immunsystem zu schwächen», sagt Carsten Watzl. Es brauche immer einige Zeit, bis sich das Immunsystem von der Arbeit der Krankheitsbekämpfung erhole. Von Ärzten hört er in den letzten Wochen immer wieder von Eltern junger Kinder, die sich drei oder vier Virusinfekte hintereinander einfangen; dann breitet sich auch noch eine bakterielle Infektion aus, die ein weniger strapaziertes Immunsystem wahrscheinlich in Schach gehalten hätte.
Hygiene und Impfungen seien die grössten medizinischen Errungenschaften der Menschheit und würden durch die Idee, der Körper brauche Infektionen, infrage gestellt.
Von den Masern ist bekannt, dass eine Infektion das Immunsystem nachhaltig schädigt, die Viren stören das Immungedächtnis. Erreger, die der Immunabwehr eigentlich bekannt sein müssten, können erneut Infektionen auslösen. Ob Sars-CoV-2 auch so nachhaltig das Immunsystem stört und bei wie vielen Infizierten, sei bislang allerdings unklar, sagt Watzl. «Dazu gibt es bislang keine brauchbaren Daten.»
Wie die Idee von der «Immunschuld» so sehr Furore machen konnte, ist Jana Schroeder nicht begreiflich. Hygiene und Impfungen seien die grössten medizinischen Errungenschaften der Menschheit und würden durch die Idee, der Köper brauche Infektionen, infrage gestellt. «Warum setzt sich diese Idee so in den Köpfen fest statt der Idee der Prävention? Dass Infektionen verhindert werden können? Und weiter gedacht: Wie wird die nächste Pandemie, wenn jetzt alle anfangen zu glauben, die Schutzmassnahmen hätten ihnen geschadet?»
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