Umstrittenster Entscheid im Sport Das Dilemma ist gross – soll Russland an Olympia teilnehmen dürfen?
Das IOK pocht auf die eigene Charta, die jegliche Diskriminierung verbietet. Die Ukraine droht mit Boykott. Und die Fechter haben sich bereits entschieden.

Die Reaktionen auf die Abstimmung waren heftig, und die Kontroversen beschränkten sich nicht auf den eigenen Sportzirkel: Der Internationale Fechtverband (FIE) hat gut ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine entschieden, dass russische und weissrussische Athletinnen und Athleten wieder zu internationalen Wettkämpfen zugelassen sind. Die Abstimmung fiel deutlich aus: 89 nationale Verbände stimmten dafür, 46 dagegen, einer enthielt sich. Der Schweizer Verband, Swiss Fencing, gehörte zu jenen Nationen, welche die Wiederzulassung ablehnten. Die FIE ist kein unbedeutender Verband, sie ist mit 155 angeschlossenen Nationen einer der grossen und seit Einführung der Olympischen Spiele der Moderne 1896 Teil des Programms.
Die FIE hat als erster grosser Verband und aus einer gewissen Dringlichkeit heraus entschieden: Schon Mitte April beginnt die Qualifikationsphase für die Spiele 2024 in Paris, die WM findet im Juli in Mailand statt. Diese Chronologie ist bei anderen Sommersportverbänden ähnlich, das Dilemma ist das gleiche: ausschliessen? Zulassen? Auch sie werden sich bald zum einen oder zum anderen bekennen müssen. Gut möglich ist, dass der Entscheid der Fechter Signalwirkung für andere hat. Während in Russland die Wende gefeiert wurde, reagierte die Ukraine schockiert und empört. USA Fencing, der US-Verband, reagierte «enttäuscht und beunruhigt, aber nicht besonders überrascht».
Das hat seinen Grund: Seit 2008 und bis die EU-Sanktionen auch ihn trafen, regierte der russische Oligarch Alischer Usmanow den Fechtweltverband. Derzeit kommt dieser ohne seinen wirtschaftlich übermächtigen Präsidenten aus, der laut «Forbes» mit 14,6 Milliarden Dollar Vermögen zu den zehn Reichsten seines Landes zählt. Gemäss Oppositionspolitiker Alexei Nawalny zählt Usmanow, der einstige Säbelfechter, entweder zu jenen, die Wladimir Putins Vermögen betreuten, oder jenen, die in Putins Auftrag Oppositionelle verfolgten. Usmanows Luxusjacht wurde im Hafen von Bremen festgesetzt, worauf er seine präsidiale Tätigkeit bei den Fechtern vorübergehend freiwillig aufgab. «Bis wieder Gerechtigkeit hergestellt ist», wie er verlauten liess.
Der Schweizer Fechtverband hat in Übereinstimmung mit Swiss Olympic gegen die Zulassung von Russen und Weissrussen gestimmt.
Seit seiner Wahl soll Usmanow über 80 Millionen Franken in seinen Sport gepumpt haben – nicht in die Weltcupveranstaltungen, wie Swiss-Fencing-Präsident Lars Frauchiger sagt. «Wir bekommen ein paar Tausend Franken für Bern, zahlen aber für die Lizenz zur Durchführung.» Bekannt ist, dass Usmanow mit Trainingscamps in weniger fechtaffinen Ländern finanziell Entwicklungsförderung geleistet hat. Wohl mit dem Hintergedanken, jeweils wiedergewählt zu werden. Die prorussische Haltung in der Abstimmung ist möglicherweise ein Abbild seiner Zuwendungen.
Frauchiger sagt, Swiss Fencing habe in Übereinstimmung mit Swiss Olympic abgestimmt, «der Dachverband hat eine klare Haltung». In seinem Positionspapier erklärt Swiss Olympic, mit dem Angriff auf die Ukraine stelle sich die russische Regierung gegen die Werte der olympischen Bewegung. Deshalb trage auch die Sportschweiz die Empfehlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) vom Februar 2022 mit, russische und weissrussische Athleten von internationalen Wettkämpfen auszuschliessen. Frauchiger sagt, über die aktuelle Wende im Fechtweltverband sei man «nicht glücklich, aber wir akzeptieren den demokratischen Entscheid».

Ohnehin: Die bisherige Empfehlung des IOK dürfte schon bald Makulatur sein und eine neue gelten. Denn bereits im Dezember kündigten die Olympier an, Lockerungen gegenüber Athletinnen und Athleten aus Russland und Weissrussland «zu prüfen». Das heisst, die Bedingungen festzulegen, unter denen Athletinnen und Athleten aus den beiden kriegführenden Ländern als «neutrale» Sportler an den Wettkämpfen teilnehmen könnten. So, wie es bereits bei den Leichtathleten in der jüngeren Vergangenheit der Fall war. Russland als Nation war nach dem Aufdecken des Staatsdopings 2015 ausgeschlossen, individuelle Athletinnen und Athleten jedoch als «ANA» bezeichnete Sportler startberechtigt, als «Authorised Neutral Athletes».
Der Exekutivausschuss des IOK – unter Präsident Thomas Bach, notabene einem einstigen Fecht-Olympiasieger – tagt in der kommenden Woche. Bereits im Dezember und Januar präsentierte es die Bedingungen für einen «gangbaren Weg» der Zulassung: keine russische Flagge, keine Hymne, keine Erkennungszeichen. Und: Nur wer als Athlet den Krieg nicht aktiv unterstützt, kann teilnehmen.
Pariser Stadtpräsidentin will keine Russen in der Stadt
Der Aufschrei war damals gross. Beispielsweise meldete sich Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris und damit Gastgeberin an den Spielen, mit deutlichen Worten. Sie wolle 2024 weder eine russische noch eine weissrussische Delegation in «ihrer Stadt» haben, «solange Russland den Angriffskrieg in der Ukraine fortsetzt». Staatspräsident Emmanuel Macron und das nationale Organisationskomitee hingegen beeilten sich, hinterherzuschicken, dass dieser schwerwiegende Entscheid natürlich beim IOK liege.

Die Ukraine kündigte umgehend an, im Fall der Zulassung der Russen würde man die Spiele boykottieren. IOK-Präsident Bach wendete sich daraufhin in einem Brief an Vadym Guttsait, den Präsidenten des ukrainischen Olympischen Komitees und Sportminister, auch er ein einstiger Fecht-Olympiasieger. Bach schrieb ihm, ein Boykott der Ukraine würde gegen die olympische Charta verstossen und könnte sogar eine Suspendierung nach sich ziehen. Nicht nur ukrainische Athletinnen und Athleten empörten sich über dieses unverfrorene Schreiben und Ansinnen. Dass in ihrem Land Zehntausende von Menschen und darunter auch Hunderte von Sportlern im Krieg umgekommen waren, schien in keiner Weise von Belang.
Muss das IOK nächstens die mögliche Zulassung der Sportlerinnen und Sportler aus Russland und Weissrussland erklären, wird es sich auf die Empfehlung des UNO-Menschenrechtsrats berufen: Athletinnen und Athleten sollen nicht aufgrund ihrer Herkunftsnation diskriminiert werden. Zu sagen dazu ist aber: Alle diese Aktiven gehören durch ihre Sportverbände dem russischen oder weissrussischen olympischen Komitee an, das vom selben Staat unterstützt wird, der den Angriffskrieg ausgelöst hat. Nur die wenigsten von ihnen können belegen, dass sie nicht von staatlicher Sportförderung profitieren. Und wohl ebenso wenige werden öffentlich sagen, dass sie den Krieg nicht aktiv unterstützen. Auch hier gilt: Wer zahlt, befiehlt.
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