Sommerserie: Darf man das? (2)Darf man Netflix besser als Kino finden?
Netflix, «Bachelor» und Hutkollekte: Die Sittenpolizei streitet sich über den guten Geschmack. Ist sie wirklich so kultiviert, wie sie behauptet?

Darf man Netflix besser als Kino finden?
mgo: Nicht ohne besondere Auflagen! Die eigene Couch hat durchaus ihre Vorteile gegenüber dem Kinosessel: Keine Werbung, niemand kommt zu spät zum Filmbeginn, niemand knuspert oder redet zu laut (ansonsten pausiert man den Film einfach und redet mit den Liebsten ein ernstes Wörtchen). Aber: Die Gefahr, dass der Hauch der Film-Zeremonie zu Hause verloren geht, ist gross. Deshalb: Handy auch zu Hause in den Flugmodus, Kinofutter besorgen und nach dem Film ausgiebig über den Film schwadronieren.
bol: Ich habe mich vor dem Tag gefürchtet, an dem ich mich outen muss: Ich habe kein Netflix. Bin ich denn die Einzige hier? Und was verpasse ich? Oder könnte es sein, dass alle anderen die schönen Dinge des Lebens verpassen: lesen, spazieren, ins Kino gehen?
mbu: Der spontane Kinobesuch an einem trümmligen, vielleicht verkaterten Nachmittag ist immer noch unschlagbar. Man kommt sich etwas weniger schäbig vor, weil man es immerhin noch aus dem Haus geschafft hat. Und jetzt, da Corona-bedingt die Kinos wieder ältere Filme zeigen (und wir keine Superhelden sehen müssen), ist das fast wie früher, als man durch ein paar wenige Fernsehkanäle zappte. Man nimmt, was man kriegt – auch wenn man den Film schon gesehen hat.
Darf man «Bachelor» schauen?
mgo: Oh ja! Am besten schaut man den «Bachelor» mit jemandem, der nicht die gleiche ironische Distanz zur Kuppelshow hat. Und dann gilt es: hineinstürzen in die Diskussionen, ablästern über die Kandidaten, den eigenen Liebling verehren. Kleiner Geheimtipp: Die Sendung «Bachelorette» verspricht noch mehr Fremdscham für die eigene Spezies. Gibt es etwas Peinlicheres als zwei Dutzend Männer, die sich um eine Frau reissen? So wird der Montag für ein paar Wochen zum Heiligabend der Testosteron-Bolzen.
bol: Was ist «Bachelor»?
mbu: Es ist wie mit Ferien am Ballermann: Verboten ist es noch nicht, aber es schadet mit Sicherheit der Gesundheit.
Darf man bei einem Kollekte-Konzert die Kollekte verweigern?
mgo: Fehlanzeige! Wandert der Hut an einem Kollekten-Konzert, ist das nicht das Trinkgeld für die Musikerinnen und Musiker, sondern der Lohn! Also hopp, rein damit! Okay, wenn die Show grottenmies war, reichen vielleicht ein paar Münzen. Aber für ein gutes Konzert macht man ein Scheinchen locker. Lieber einmal im Leben weniger ins Hallenstation pilgern.
bol: Man darf schon, wenn man die soziale Verachtung aushält, die einem von links und rechts entgegenschlägt. Denn bei einer Kollekte gibt es die Erwartungshaltung, dass jeder etwas gibt. Ärgerlich daran finde ich das Hinweisschild: «Eintritt frei, Kollekte». Denn dieses Hinweisschild ist nicht ehrlich. Wäre der Eintritt frei, gäbe es keine Kollekte. Bei einer Kollekte soll man Eintritt (oder Austritt) zahlen, man bestimmt einfach selber, wie viel.
mbu: Nein. Man verlangt nach einem Katzenjammer-Konzert ja auch nicht sein Geld zurück. Anders ist es freilich mit Strassenmusikern: Denen kann man sogar Geld geben, damit sie zu spielen aufhören.
Darf man sich freuen, dass der Festivalsommer ausfällt?
mgo: Reine Blasphemie! Festivals ersetzen Ferien, bieten einen Ausbruch für ein Wochenende und schenken Momente, die noch viel länger bleiben als das Festivalbändchen am Arm. Ich biete einen Tausch an: zehn Jahre keinen Fussball, dafür in diesem Jahr ans Gurtenfestival!
bol: Ja, man darf. Traurig daran ist einzig, dass der Festivalsommer erst ausfallen muss, damit man sich überhaupt wagt, nicht daran teilzunehmen. Wahre freie Geister schaffen es schon seit Jahren, den Festivalsommer ausfallen zu lassen. Und die freuen sich hoffentlich jetzt nicht. Denn das würde sich dann Schadenfreude nennen.
mbu: Nein, darf man nicht. Weil sich jetzt all diese biertrinkenden und flipfloptragenden Festivalgänger sonst irgendwie beschäftigen müssen. Vorbei ist es mit der angenehmen Gediegenheit in den herrlich kühlen und ruhigen Bars der Stadt.
Martin Burkhalter ist Kulturredaktor und schreibt über Pop-, Rock- und Jazzmusik, über popkulturelle und gesellschaftliche Themen. Am liebsten ist er in Kulturlokalen unterwegs und schreibt auf, was er dort hört und sieht.
Mehr InfosFehler gefunden?Jetzt melden.