«... dann würden wir uns nochmals Gedanken zum Dorf machen»
Der Rheinauer Versuch zum Grundeinkommen wird wissenschaftlich begleitet. Ökonom Jens Martignoni sagt, worauf sich die Rheinauer einstellen müssen.

Warum haben Sie sich für die Gemeinde Rheinau entschieden?
Die Auswahl ist nicht primär über statistische Parameter erfolgt. Unsere Hauptfrage war, ob wir in einer Gemeinde auf Begeisterung für die Idee stossen und ob wir optimistisch sind, dass die Bevölkerung freiwillig in grösserer Zahl bei diesem Experiment mitmacht. In diesem Zusammenhang war auch der Ja-Anteil bei der eidgenössichen Abstimmung relevant. In Rheinau lag dieser mit 28 Prozent leicht über dem nationalen Durchschnitt. Zusätzlich war es uns wichtig, dass die Dorfstrukturen intakt sind. Wir wollten keine Agglomerationsgemeinde, wo die Leute vorwiegend ausserhalb arbeiten und nur über Nacht zu Hause sind. Zusätzlich sollte die Bevölkerungsstruktur einigermassen durchschnittlich sein. Rheinau erfüllt diese Kriterien.
Philip Kovce, Philosoph und Vordenker des bedingungslosen Grundeinkommens, kritisierte die Pläne für einen Test in der Stadt Zürich. Das Grundeinkommen könne man nicht testen, die erhobenen Daten wären wertlos. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Ich kann die Kritik nachvollziehen. Es stimmt, dass unsere Ergebnisse nicht repräsentativ und ohne weiteres verallgemeinerbar sein werden. Aber Herr Kovces Sicht ist mir zu schwarz-weiss. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens kommt nur weiter, wenn wir den Diskurs pflegen. Sie muss sich auch durch praktische Erfahrungen weiterentwickeln, nur so können offene Fragen geklärt werden. Unser Experiment kann solches angewandtes Wissen generieren. Ein Statistik-Purist wird sicher sagen: Eure Aussagekraft ist gleich null. Aber ich denke, man kann auch in einem Test sehr gut nachvollziehen, was mit den Leuten und der Gemeinschaft passiert. Unsere Forschung ist denn auch keine statistische, sondern eine beobachtende und eine teilnehmende.
«Die Frage ist, wie die zusätzliche Zeit genutzt wird? Wird sie für das Dorf genutzt? Gibt es neue Projekte?»
Worauf müssen sich die Rheinauerinnen und Rheinauer einstellen, wenn sie sich für den Test anmelden? Werden sie unter einer Flut von Interviews und Befragungen untergehen?
Nein. Wir wollen das möglichst dezent halten. Wir werden sicher am Anfang Daten erheben müssen – nur schon, um den genauen Finanzierungsbedarf abschätzen zu können. Weiter wollen wir mit Gruppen arbeiten, die vielleicht drei-, viermal zusammenkommen. Zusätzlich gibt es sicherlich auch einige schriftliche Befragungen. Der Umfang dieser wissenschaftlichen Begleitung ist aber auch Verhandlungssache. Ab dem 31. August wird die Bevölkerung noch genauer informiert, und die Rheinauer können sich zur definitiven Teilnahme anmelden. Dann wird sich zeigen, wie viel mach- und zumutbar ist.
Wie wollen Sie mit Kritikerinnen und Kritikern im Dorf umgehen?
Wir wollen das noch etwas nebulöse Grundeinkommen mit unserem Experiment näher an die Realität heranführen. Dafür brauchen wir positive, aber auch negative Stimmen. Wir wollen also durchaus, dass Skeptikerinnen oder Gegner des Projekts zu Wort kommen können. Uns interessiert etwa, warum sie dagegen sind. Und ob sich daran im Zuge des Experiments etwas an ihrer Einstellung ändert.

Der Fokus des Experiments soll darauf liegen, was das Grundeinkommen mit den Menschen in Rheinau macht. Haben Sie Hypothesen dazu?
Zur Frage, was mit den Menschen und der Gemeinschaft passiert, kursieren gesellschaftlich vor allem diverse Vorurteile. Diesen wollen wir einen konkreten Versuch entgegenstellen. Wir haben gewisse Anhaltspunkte aus anderen Ländern, in denen Tests stattgefunden haben. Diese sind aber nur bedingt auf die Schweiz übertragbar. Anstatt fixe Hypothesen aufzustellen, erhoffen wir uns, dass ein Prozess stattfindet. Uns interessiert nicht nur die individuelle Ebene, sondern vor allem die Frage, was kollektiv passiert: Wie ändert sich die Stimmung zum Grundeinkommen in der Gemeinde? Es kann dazu führen, dass die Leute unabhängiger von der Erwerbsarbeit werden und vermehrt anderes tun. Die Frage ist dann, wie die zusätzliche Zeit genutzt wird. Wird die für Gemeinschaftsaktivitäten, für das Dorf genutzt? Gibt es neue Projekte in Rheinau? Werden Probleme im Dorf angegangen? In bisherigen Experimenten wurden nur gewisse Bevölkerungsgruppen beteiligt. Dadurch gab es weniger Wechselwirkungen zwischen allen Menschen.
Das Projekt ist auf ein Jahr terminiert – ist das nicht zu kurz?
Die Beschränkung auf ein Jahr entspringt der sehr praktischen Überlegung, dass wir die Finanzierung sicherstellen müssen. Sollten wir mit dem Crowdfunding und den Geldern von Stiftungen deutlich mehr als die nötigen 3 bis 5 Millionen einnehmen, könnten wir auch über eine Verlängerung reden, etwa auf zwei Jahre.
Hand aufs Herz: Ist es nicht unrealistisch, so viel Geld einzunehmen?
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Finanzierung möglich ist. Das Thema ist hochrelevant – das zeigt uns nicht zuletzt das grosse Medieninteresse. Unsere Gesellschaft muss grosse Probleme lösen, etwa die Finanzierung der Sozialsysteme oder die Automatisierung vieler Jobs. Wir setzen stark auf das geplante Crowdfunding. Wenn die über 500'000 Menschen, die Ja zu einem Grundeinkommen auf nationaler Ebene gesagt haben, je 20 Franken zahlen, würden wir 10 Millionen einnehmen.
Wie geht es weiter, wenn die Finanzierung des Experiments nicht gelingt?
Dann müssen wir noch einmal grundsätzlich über die Bücher.
Sie wollen zudem die Mehrheit der Rheinauerinnen und Rheinauer – also rund 650 Leute – für das Projekt begeistern. Was geschieht, wenn sie diesen Wert deutlich unterschreiten?
In diesem Fall würden wir uns noch einmal Gedanken zum Dorf machen – wir hatten sehr viele weitere Interessenten.
In Ihrem Wissenschaftsteam sind mit dem Soziologen Sascha Liebermann, dem ETH-Psychologen Theo Wehner und Ihnen vor allem erklärte Befürworter des Grundeinkommens. Können Sie das Projekt überhaupt kritisch begleiten?
Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Uns geht es nicht darum, einfach Verkaufsargumente für das Grundeinkommen zu liefern. Das von Ihnen angesprochene Team ist das Kernteam. Wir sind sehr offen für Zusammenarbeit mit anderen interessierten Instituten und Universitäten. Es gibt sehr viele offene Fragen, die wir nicht alle abdecken können. Wir selbst stellen diverse Forschungsanträge und werden auch Kooperationen innerhalb dieser Projekte aktiv angehen. Und selbstverständlich stellen wir uns der in der Forschung üblichen kritischen Begutachtung durch andere Wissenschaftler.
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