«... dann wird es brandgefährlich»
Nahostexperte Michael Lüders hält die Politik der USA im Nahen Osten für falsch. Im Interview erklärt er, warum, und fordert ein Umdenken Europas.

Michael Lüders, in Ihrem Buch «Wer den Sturm erntet» geben Sie erneut dem Westen die Hauptschuld für die Tragödie in Syrien. Die «Verbrechen des Assad-Regimes» bezeichnen Sie als «offenkundig». Warum geben sie diesen Verbrechen ein geringeres Gewicht?Michael Lüders: Man kann das eine nicht gegen das andere aufrechnen. Es geht nicht um moralische Beurteilungen der entsetzlichen Ereignisse in Syrien, sondern um eine politische Analyse, um die Frage: Wie konnte aus einer Protestbewegung ein regionaler Stellvertreterkrieg werden? Assad soll nicht wegen seiner Menschenrechtsverletzungen gestürzt werden, sondern weil er geopolitisch nicht in das Konzept des Westens und der Golfstaaten passt. Die Versuche, das Regime zu stürzen, haben lange vor dem Volksaufstand begonnen und sind gut dokumentiert.
Grossen Raum in Ihrem Buch widmen Sie dem Giftgasmassaker in den Vororten von Damaskus im Sommer 2013. Dafür verantwortlich, behaupten Sie unter Berufung auf britische Geheimdienstquellen, sei nicht die syrische Armee gewesen, sondern der Al-Qaida-Ableger Nusra-Front und der türkische Geheimdienst, der mit einer Operation unter falscher Flagge den Kriegseintritt der USA erzwingen wollte. Dennoch wird in westlichen Medien weiterhin Assad als Übeltäter genannt ...Assad ist ja auch ein Übeltäter, ein Diktator, der sehr viel Schuld auf sich geladen hat. Aber wenn wir uns die Konflikte in Syrien oder auch in der Ukraine ansehen, dann stellen wir fest, dass die Leitmedien in der Regel einem doch eher verkürztem Narrativ folgen. Wenn sich dann aber herausstellt, dass die von den USA und der Türkei mit Waffen unterstützten Rebellen Jihadisten und Terroristen sind, dass diese Leute nicht nur ein Massaker begingen, sondern auch versuchten, die USA in einen Krieg hineinzuziehen, dann wäre dies ein Skandal sondergleichen. Die offizielle Erzählung, die in den westlichen Medien den Ton angibt, würde in sich zusammenbrechen. Das will man verhindern. Daher ist die Bereitschaft sehr gering, sich mit der Faktenlage auseinanderzusetzen, wenn einmal eine Unterteilung in Gut und Böse vorgenommen wurde.
Im syrischen Khan Sheikhoun kamen bei Giftgasangriffen am Dienstag erneut bis zu 70 Menschen ums Leben. Deutet dieses Mal vieles auf die Täterschaft des Assad-Regimes hin?Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau, was in Khan Sheikhoun geschehen ist. Dennoch hat die US-Politik eine rasante Wende vollzogen: Für Präsident Trump, der das Regime als Schuldigen benannt hat, sind jetzt, was Assad angeht, wieder alles Optionen. Das haben wir in der Nacht auf gestern erlebt.
«Auch unter Trump folgt die US-Politik in Syrien keiner durchdachten Strategie.»
Waren die US-Marschflugkörperangriffe ein einmaliger Warnschuss, oder müssen wir mit weiteren Militäraktionen rechnen, die von den regionalen Verbündeten gefordert werden?Auch unter Trump folgt die US-Politik in Syrien keiner durchdachten Strategie. Die Gefahr einer Konfrontation mit Russland ist jetzt gewaltig. Wenn ein russischer Soldat getötet oder ein russisches Flugzeug abgeschossen wird, dann wird es in Syrien brandgefährlich.
«Regime Change», betonen Sie in ihrem Buch, ist das moderne Gesicht des klassischen Staatsstreichs, der in Syrien durch die Instrumentalisierung der Jihadisten erreicht werden sollte. Ist das Ziel «Regime Change» nach der Eroberung Aleppos und dem Machtwechsel in Washington nun vom Tisch?Nein, das Szenario eines Regimewechsels gibt es immer noch. Das ist nach dem erneuten Strategiewechsel in Washington offensichtlich. In den USA gibt es Machtzentren, die weiterhin den Showdown mit Russland in Syrien und auch in der Ukraine wollen. Daher ist davon auszugehen, dass der Krieg in Syrien weitergeht. Erst vor einigen Wochen haben die USA 500 Elitesoldaten in Ostsyrien stationiert, denen einige Tausend folgen sollen. Ihr Ziel ist die Eroberung der sogenannten Kalifatshauptstadt Raqqa. Doch was geschieht, wenn dieses Ziel erreicht worden ist? Abziehen werden diese Soldaten ebenso wenig wie die in Syrien stationierten russischen Soldaten.
Warum?Nach der Zerschlagung des IS in Syrien und im Irak wird ein Machtvakuum entstehen, das es auszufüllen gilt. Die Supermächte und die Regionalmächte wollen weiterhin Einfluss nehmen, neue Konflikte sind daher vorprogrammiert, die Kriege in der Region werden weitergehen.
Die Gesellschaften südlich des Mittelmeeres befänden sich «mitten in ihrem Dreissigjährigen Krieg», schreiben Sie. Dieser Krieg werde so lange dauern, bis die vernünftigen Teile der Gesellschaft wieder die Oberhand gewännen. Haben diese Gesellschaften angesichts der Bevormundung und Instrumentalisierung durch die Super- und Regionalmächte überhaupt eine Chance zu handeln?Kurzfristig auf keinen Fall. Hinzu kommt die Unfähigkeit der arabischen Machteliten, eine konstruktive Politik zu betreiben. Ihnen geht es ausschliesslich um Machterhalt, und zu diesem Zweck sind sie auch bereit, ganze Länder zu zerstören. Die Regime in der arabischen Welt haben keine Legitimität. Die bürgerlichen Mittelschichten sind schwach. Sie können noch nicht als Agenten der Veränderung auftreten. Und die Spitzen der Gesellschaft sind viel zu sehr mit der Machtbewahrung und der Selbstbereicherung beschäftigt, als dass von dorther bald irgendwelche positiven Impulse zu erwarten wären.

Also gibt es kein Licht am Ende des nahöstlichen Tunnels.Wir in Europa werden uns daran gewöhnen müssen, mit dem Flüchtlingsproblem und dem islamistischen Terrorismus zu leben. Wir müssen daher anfangen, unser eigenes Bewusstsein zu verändern. Und die Politik muss lernen, in komplexeren Zusammenhängen zu denken und auch eigene Interessen klarer zu benennen. Die Amerikaner intervenieren militärisch, und wir in Europa kehren die Scherben dieser verfehlten Politik auf.
Wird Europa aus den Fehlern lernen?Wie es scheint, werden die Europäer weiterhin im Windschatten der Amerikaner segeln und nicht in der Lage sein, eine eigenständige Politik zu betreiben. Wie die Amerikaner gegenüber Mexiko haben auch die Europäer mit dem Bau von Mauern auf der Balkanroute und der militärischen Kontrolle des Mittelmeeres begonnen. Auch wir in Europa betreiben eine Abschottungspolitik, kritisieren aber gleichzeitig die Amerikaner.
Grosser Verlierer in Syrien ist schon jetzt die Türkei. Wo sehen sie dieses Land in zwei Jahren?Die Perspektiven für die Türkei sind düster – auch deshalb, weil es keine Möglichkeit mehr gibt, das System Erdogan auf friedliche, demokratische Weise zu kritisieren. Wenn man fast die Hälfte der Bevölkerung, die nicht für Erdogan ist, ausgrenzt und jede Form des zivilen Protestes unter Strafe stellt, dann ist klar, dass sich der Widerstand gegen Erdogan zunehmend in den Untergrund verlagern wird. Das führt dazu, dass die Türkei zunehmend den Weg Syriens gehen wird. Das Ergebnis wird der wirtschaftliche Niedergang der Türkei und der Zusammenbruch des Tourismus sein. Leider hat sich das System Erdogan so sehr an der Macht festgebissen, dass man sich nicht mehr vorstellen kann, dass es diese Macht jemals wieder aufgibt.
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