Colvin starb, als sie ihre Schuhe holen wollte
Das syrische Volk stimmte über eine neue Verfassung ab. Derweil wurden Details zum Tod der Journalistin Marie Colvin bekannt. Das Rote Kreuz will am Montag wieder Verletzte aus Homs retten.
Am Wochenende haben Rotes Kreuz und Roter Halbmond keine weiteren Verwundeten aus der syrischen Rebellenhochburg Homs abtransportieren können. Dies sei aber wahrscheinlich am Montag möglich, sagte ein Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Damaskus. Gespräche mit der syrischen Regierung und Oppositionsvertretern über eine erneute Evakuierungsaktion hatten zunächst kein Ergebnis gebracht. Nun sei es «zu gefährlich, in der Nacht Krankenwagen von Damaskus nach Homs zu schicken, um Verwundete abzutransportieren», sagte der IKRK-Sprecher.
Das Rote Kreuz hatte am Freitag mit der Schwesterorganisation Roter Halbmond erstmals sieben Verletzte aus Homs evakuieren dürfen. Zudem wurden 20 Frauen und kranke Kinder aus dem umkämpften Stadtteil Baba Amr in Sicherheit geracht. Homs steht seit drei Wochen unter schwerem Beschuss der syrischen Armee. Ein westlicher Diplomat in Damaskus bestätigte, dass es in den Gesprächen über eine weitere Evakuierungsaktion Fortschritte gab. Auch er verwies darauf, dass es nun aber zu spät sei, um noch Verwundete aus dem 160 Kilometer entfernten Homs zu holen.
Eine ausländische Journalistin, die am Wochenende an den Gesprächen über weitere Evakuierungsaktionen beteiligt war, sagte AFP, am Samstag seien zwei Ambulanzen bis ans Stadtviertel Baba Amr in Homs gefahren. Dort seien die Krankenwagen aber durch die von Deserteuren gegründete Freie Syrische Armee gestoppt worden. Die Gruppe beschuldigte den Angaben zufolge die Regierung in Damaskus, mehrere der am Freitag aus der Stadt gebrachten Verletzten festgenommen zu haben. Der Journalistin zufolge ergaben aber IKRK-Nachforschungen, dass diese Beschuldigungen falsch waren.
Details zu Colvins Tod bekannt
Die in der syrischen Stadt Homs getötete US-Journalistin Marie Colvin ist nach Angaben ihres Arbeitgebers gestorben, als sie ihre Schuhe holen wollte, um fliehen zu können. Colvin und eine Gruppe weiterer Journalisten seien dem örtlichen Brauch gefolgt, ihre Schuhe vor Betreten eines Gebäudes auszuziehen, das als Pressezentrum der Rebellen diente, berichtete die britische Zeitung «Sunday Times», für die Colvin tätig war, in einer ersten Darstellung der Umstände ihres Todes.
Die Journalisten hätten sich im Erdgeschoss befunden, als die oberen Stockwerke von Raketen getroffen wurden, berichtete die Zeitung. Colvin sei zunächst unverletzt geblieben, habe dann aber ihre Schuhe holen wollen, als eine weitere Rakete den Eingang des Gebäudes traf.
Dabei seien Colvin und der französische Fotograf Rémi Ochlik verschüttet und getötet worden. Colvins Mutter sagte dem Sender CNN am Samstag, ihre Tochter werde vermutlich in Syrien beerdigt, da es für Helfer zu gefährlich sei, ihre Leiche aus Homs zu bergen.
Bouvier braucht medizinische Versorgung
Bei dem Angriff wurden auch der britische Fotograf Paul Conroy und die französische Reporterin Edith Bouvier verwundet. Conroys Ehefrau sagte dem BBC-Radio am Sonntag, ihr sei trotz ihrer Bitten mitgeteilt worden, dass es zu gefährlich sei, ihren Mann aus der seit Wochen unter Beschuss stehenden Stadt herauszuholen.
Frankreichs Innenminister Claude Guéant erklärte, es sei «medizinisch dringend notwendig», Bouvier aus dem belagerten Stadtteil Baba Amro herauszubringen. Frankreich werde alles tun, um die Journalistin sicher nach Frankreich zurückzubringen.
Blutiger Abstimmungstag
Mit der Abstimmung über eine neue Verfassung wollte das syrische Regime Bereitschaft zu Reformen demonstrieren. Doch die Realität im Land ist auch am Sonntag eine andere gewesen: Bei erneuter Gewalt wurden nach Angaben von Aktivisten mindestens 29 Menschen getötet. Anhänger der Opposition boykottierten das Referendum. Politiker des Westens bezeichneten es als Farce. Nach Einschätzung von Experten könnte Präsident Baschar Assad selbst im Falle einer Umsetzung des Entwurfs für eine neue Verfassung bis zum Jahr 2028 weiterregieren.
Etwa 14,6 Millionen Wahlberechtigte waren dazu aufgerufen, sich für oder gegen ein Ende der seit fünf Jahrzehnten andauernden formellen Alleinherrschaft der regierenden Baath-Partei zu entscheiden. Der Andrang vor den 14'000 Wahllokalen blieb bis zum Abend allerdings überschaubar. Der Verfassungsentwurf sieht ein Mehrparteiensystem sowie die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Mal sieben Jahre vor. Die gegenwärtige, noch bis 2014 laufende Amtszeit Assads werde dabei aber nicht angerechnet, sagte der syrische Rechtsexperte Omran Subi.
Bundesaussenminister Guido Westerwelle rief Assad dazu auf, den Weg für einen politischen Übergang freizumachen. «Das Referendum in Syrien ist nicht mehr als eine Farce. Scheinabstimmungen können kein Beitrag zu einer Lösung der Krise sein», hiess es am Sonntag in einer Stellungnahme des FDP-Politikers. US-Aussenministerin Hillary Clinton bezeichnete das Referendum als «zynischen Trick», der nur der Legitimierung der Gräueltaten des Regimes dienen solle und forderte die verbliebenen Anhänger Assads offen zu einer Abkehr von ihm auf.
Aufruf zum Wahlboykott
Die beiden grössten Schirmorganisationen der Opposition, der Syrische Nationalrat und das Nationale Koordinierungsgremium für demokratischen Wandel in Syrien, hatten zu einem Boykott der Abstimmung aufgerufen. Gegner Assads kritisierten die Pläne als oberflächliche Reform, die nichts an der Macht des Regimes ändere. Einige der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen waren noch bis vor einem Jahr undenkbar gewesen, doch mittlerweile will sich ein Grossteil der Oppositionsgruppen mit nichts weniger als dem Rücktritt Assads zufriedengeben.
«Ich boykottiere die Abstimmung», sagte auch der Oppositionelle Mustafa Osso der Nachrichtenagentur AP am Telefon. Gesetze seien in Syrien wertlos, fügte er hinzu. Schliesslich habe die Regierung den Ausnahmezustand bereits im vergangenen April aufgehoben, danach sei die Unterdrückung der Opposition jedoch sogar noch verschärft worden.
Allein am Sonntag wurden Aktivisten zufolge mindestens 29 weitere Menschen bei Angriffen von syrischen Regierungssoldaten getötet. Die meisten Opfer habe es in der Stadt Homs gegeben, teilte das Syrische Observatorium für Menschenrechte mit. Von weiteren Toten sei aus der Region um Daraa im Süden des Landes, aus Idlib im Nordwesten und aus der Provinz Deir el Sur im Osten berichtet worden. Bereits am Samstag waren beim Beschuss von Homs und anderen Hochburgen der Protestbewegung nach Angaben von Aktivisten mindestens 89 Menschen getötet worden.
Nach Angaben eines Sprechers des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz konnte die örtliche Gruppe der Hilfsorganisation am Samstag nicht in das umkämpfte Stadtviertel Baba Amr in Homs vordringen, um verwundete Syrer und ausländische Journalisten sowie die Leichen zweier weiterer Journalisten zu bergen. Am Freitag hatte ein Team des Roten Halbmonds noch 27 Menschen aus dem Viertel retten können.
«Das ist eine gute Verfassung»
In der Hauptstadt Damaskus, wo Assad unter Angehörigen von religiösen Minderheiten und Geschäftsleuten offenbar noch relativ grosse Unterstützung geniesst, sagten einige Syrer, sie wollten sich an dem Referendum beteiligen. «Das ist eine gute Verfassung. Sie sieht Pluralismus vor und der Präsident darf nur noch zwei Perioden im Amt bleiben. Das gab es vorher nicht», sagte ein Angestellter im öffentlichen Dienst, Mohammed Diab, als er vor einem Wahllokal im vornehmen Stadtteil Abu Rummane anstand.
«Ich bin hier, um für die neue Verfassung zu stimmen. Dies ist nicht die Zeit, Nein zu sagen. Das Volk sollte sich vereinen», sagte der 28-jährige Dschaafar Naami. Auf Transparenten wurden die Menschen in Damaskus zur Teilnahme an der Abstimmung aufgerufen. «Wende dich nicht von der Wahl ab», war auf einem zu lesen. Auf einem weiteren hiess es: «Syriens Verfassung: Freiheit des Glaubens» - offenbar ein Hinweis auf die Verfassungsartikel zum Schutz religiöser Minderheiten.
UN-Menschenrechtsrat will Druck erhöhen
Der UN-Menschenrechtsrat will zum Auftakt seiner Jahrestagung ab Montag in Genf den Druck auf die syrische Regierung erhöhen. Dabei soll es vor allem um eine von internationalen Ermittlern erstellte Liste mit syrischen Vertretern aus Politik und Militär gehen, denen Menschenrechtsverbrechen zur Last gelegt werden. Ziel sind verschärfte internationale Massnahmen gegen die syrische Führung sowie ein verbesserter Zugang für humanitäre Hilfe.
Zu der Tagung werden 90 Minister und ranghohe Beamte erwartet, darunter Bundesaussenminister Guido Westerwelle (FDP). Neben Syrien sollen bei den anschliessenden Sitzungen des Menschenrechtsrats auch die Entwicklungen im Iran, Libyen, Sri Lanka, Burma und Nordkorea diskutiert werden.
afp/sda/dapd/kpn/rub
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch