Berner Schlagzeuger Clemens Kuratle, kann wortlose Musik politisch sein?
Drummer, Komponist und obsessiver Zeitungsleser: Nun tritt Clemens Kuratle mit seiner internationalen Band Ydivide im Progr auf.

Es ist viel los an diesem Morgen im Café Adrianos am Berner Theaterplatz. Die übliche, verheissungsvolle Geräuschkulisse eines neuen Tages: das Scheppern von Tassen, das Rascheln der Zeitungen, Stimmengewirr, Hintergrundmusik und dazu der Duft von Kaffee in der Luft. Clemens Kuratle sitzt hinten in der Ecke, dort, wo die Zeitungen an der Wand aufgereiht sind, und sagt: «Es gibt wenig Schöneres als die Zeit zu haben, hier zu sitzen, Kaffee zu trinken und zwei Stunden lang Zeitung zu lesen.»
Clemens Kuratle ist 31 Jahre alt und von Beruf Musiker, derzeit pendelt er zwischen Bern und Köln, wo er einen Zweitwohnsitz hat. Er ist ein jazzgeschulter und umtriebiger Schlagzeuger, spielt etwa an der Seite der erfolgreichen Genfer Harfenistin Julie Campiche oder der Berner Geigerin Laura Schuler alias Kate Birch.
Am Samstag tritt er in der Turnhalle jedoch mit seiner eigenen, wilden Band auf. Ydivide heisst die exquisite Formation und fand 2019 an der Jazzwerkstatt in Bern zusammen. Dazu gehören der Ostschweizer Lukas Traxel am Bass, der englische Pianist Elliot Galvin und aus Irland: Chris Guilfoyle an der Gitarre und Dee Byrne am Altsaxofon.
«Oftmals trage ich musikalische Ideen sehr lange mit mir herum, bis sie sich plötzlich mit einem politischen Thema verbinden und zu einem Song werden.»
Eine englische, irische und Schweizer Kooperation also, entstanden mitten in den Brexitwirren und der Pandemieunsicherheit. Trotz der Unterbrechungen und plötzlichen Visaherausforderungen gelang es Ydivide, ihr Debütalbum «Lumumba» im Dezember 2021 aufzunehmen. Und jetzt endlich können sie es auch in der Schweiz, in der Berner Turnhalle, taufen.
Die Welt verändern
Ydivide bedeutet «why divide» und ist ein Kommentar zum Brexit. Sowieso haben fast alle Songs aus Kuratles Feder einen politischen Kontext, sie handeln vom Kampf gegen Ungleichheit, Gier und Ignoranz, gegen den Klimakollaps, sie klagen die Resignation und die Heuchelei der westlichen Welt an, sie suchen Versöhnung, sie wollen aufrütteln und etwas aussagen, kurz: sie wollen die Welt verändern.
«Lumumba» ist ein starkes, aber kein einfaches Album. Man muss sich darauf einlassen wollen. Es wechselt von leicht zu fiebrig, von verstörend zu versöhnlich. Es ist mal lyrisch, verträumt («Marvelling»), dann wieder ungestüm und verführerisch («Another One For Rose»), wütend und bedrohlich («Bwegshit»), es kann aber auch wunderbar grooven («No Cynicism») oder leicht dahintänzeln («Optimism»).
«Lumumba» ist eine Reise vom Dunkel ins Licht, dynamisch, mit irren Tempiwechseln und einem tiefen, fiebertraumartigen Abgrund kurz vor dem Ende («They haven’t learned Anything»).
Das gelangweilte Kind
Man sieht und hört es sofort: In Clemens Kuratle sind Weltgeschehen und Musik stets eng miteinander verknüpft. Er kann gar nicht anders. Er brauche die Dringlichkeit eines politischen Kontextes, sagt er. Nur so spüre er eine Relevanz und nur so könne er einen Song überhaupt erst fertig schreiben. «Es gibt immer wieder Momente, in denen mich ein Thema so berührt, dass gleich eine Idee zu einem Stück entsteht.» Viel öfter aber sei es so, dass sich musikalische Ideen, die er schon länger mit sich herumtrage, plötzlich mit der Politik verbänden.
So geschehen etwa beim Titelstück des Albums. «Lumumba» ist inspiriert von Patrice Lumumba, dem ersten Premierminister des Kongo und einem führenden Panafrikanisten, der 1961 ermordet wurde. «Die Leitmelodie hatte ich schon lange in mir», sagt er. «Und als ich mich mit Lumumbas Geschichte und somit mit der kolonialen Vergangenheit Europas beschäftigte, fand diese Melodie ganz plötzlich eine Form.»
Kuratles Politikbesessenheit und die Liebe zur Musik sind wohl deshalb miteinander verknüpft, weil sie denselben Ursprung haben: Langeweile. Aufgewachsen als Pfarrerssohn in Meikirch, hat er sich noch vor der Schule das Lesen selbst beigebracht. Er las alles, was ihm unter die Finger kam. Deshalb war er in den ersten Schuljahren, wo es darum ging, lesen und schreiben zu lernen, wahnsinnig gelangweilt. Der konsultierte Schulpsychologe empfahl für das unruhige Kind Musikunterricht.
Weil die Nachbarn, bei denen er oft zu Besuch war, ein Schlagzeug hatten, nahm er bald Schlagzeugstunden. Die Schule fiel Kuratle auch später mehr oder weniger leicht, sodass die Musik einen immer wichtigeren Platz in seinem Leben einnahm. Er habe schlicht alles spielen können wollen, sagt er heute. Im Gymnasium suchte er sich dann erste Bands. Später besuchte er – wenig überraschend – die Jazzschule in Luzern.
Engagierter Jazz
Die frühe Lektüre hat ihn aber nicht nur zum Musiker werden lassen, sondern in ihm eben auch das Interesse am Weltgeschehen geweckt, so sehr, dass er bis heute nicht ohne Nachrichten sein kann, sich selbst als Newsjunkie bezeichnet und die Spannungen der Welt in Musik zu übersetzen versucht.
«Gerade improvisierte Musik empfinde ich per se als politisch», sagt er. Während etwa Popmusik ein ästhetisches, aber eher statisches Statement darstelle, widerspiegle improvisierte Musik viel unmittelbarer den Zustand einer Gesellschaft. «Diese Unmittelbarkeit verleiht ihr eine Energie, die in der Zuhörerin, im Zuhörer etwas verändern kann.» Das gemeinsame Erleben eines solchen Moments schaffe Verbundenheit. «Ich glaube wirklich, dass ein Konzertbesuch uns toleranter und offener, ja zu besseren Menschen machen kann.»
Und so ist aus dem gelangweilten Schüler ein – im politischen Sinn – engagierter Jazzmusiker geworden, der «Protestsongs ohne Worte» schreibt und fest daran glaubt, dass Musik etwas verändern kann. Der überzeugt ist, dass Kultur ein Kitt ist für die Gesellschaft.
Turnhalle, Progr. Sonntag, 12. Februar, 20.30 Uhr
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