Chemnitz, gerappt und gerockt
65'000 Menschen kamen zu einem Gratiskonzert prominenter deutscher Bands in die sächsische Stadt, um gegen rechte Hetze zu demonstrieren.
Es dauert nur ein paar Minuten, und schon fährt Bewegung in die Masse. Die Raps drehen die jungen Frauen und Männer auf, die Beats fahren in die Glieder, die Bässe wummern in die Mägen: Es wird getanzt. Vorne singt das Publikum jedes Wort mit, die Hände wischen im Takt hin und her, die Füsse stampfen. Ausgelassenheit breitet sich aus wie eine Epidemie.
Eine Woche nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H., nach Tagen der Übergriffe und Konfrontationen zieht in Chemnitz wieder Freude ein – wenigstens dort, wo in der gespaltenen Stadt Musik gespielt wird. Grössen der deutschen Rap- und Punkrockszene haben zu einem Open-Air-Konzert unter dem Motto «Wir sind mehr» gerufen – und 65'000 Menschen aus ganz Deutschland folgten.
«Wir sind nicht naiv»
Die Initiative ging vom Chemnitzer Rapper Trettmann aus, sein Rostocker Kollege Marteria schloss sich ebenso an wie die einheimischen Indierocker Kraftklub, die Punkrocker Feine Sahne Fischfilet, die Berliner Hip-Hopper K.I.Z, die Rapperin Nura sowie die unvermeidlichen Punkrockveteranen, die Toten Hosen aus Düsseldorf. «Wir sind nicht naiv. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein Konzert macht und dann ist die Welt gerettet», sagte Kraftklub-Sänger Felix Brummer vor dem Konzert. «Aber manchmal ist es wichtig, allen zu zeigen, dass man nicht allein ist.»
Eine Gruppe von vier Soziologiestudenten, zwei Frauen, zwei Männer, sind aus Göttingen für das Konzert nach Sachsen gereist – 224 Kilometer. Hotel oder Zug benötigten sie nicht, auf eigens eingerichteten Börsen gab es Mitfahrgelegenheiten und Unterkünfte zuhauf.
Die Musik zieht an
«Wir sind gekommen, um ein Zeichen zu setzen», sagt einer der jungen Männer. «Nämlich dass wir tatsächlich mehr sind. Dass es noch andere Mehrheiten gibt als die der Rechten und Neonazis, die hier zuletzt die Strasse dominiert haben.» Die Musik, zumal wenn sie umsonst sei, habe die Kraft, Menschen zu einer Demonstration zu locken, die ohne die Musik vielleicht gar nicht gekommen wären.
Ohne Konzert wären sie wohl auch in Leipzig geblieben, meint eine andere Gruppe von Studenten. Allerdings sei der Aufruf zum richtigen Zeitpunkt gekommen. «Jetzt ist der Moment aufzustehen», sagt eine Frau der Gruppe, die Architektin werden will. Ein Medizinstudent hält ein selbst gebasteltes Schild in der Hand, das sich an die «besorgten» Chemnitzer Bürger richtet: «Ich verstehe Eure Trauer. Aber nicht Euren Hass.»
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Zwei junge Chemnitzer haben die Stadt längst zum Studieren verlassen und sind jetzt nur da, weil noch Semesterferien sind. Der eine studiert im thüringischen Jena, wie das sächsische Leipzig eine eher linke Studentenstadt. «Als zuletzt 150 Neonazis demonstrierten, waren wir 6000 Gegendemonstranten», sagt er. In Chemnitz oder in der Landeshauptstadt Dresden hingegen müsse man schon etwas tun, um mehr Leute auf die Strasse zu bringen als die Rechten. Am meisten freut sich der Chemnitzer darüber, dass nun auf einmal so viele junge Menschen in der Stadt seien. «Sonst ist es ja doch sehr trist hier.»
Finanziert von der Stadt
Es ist kein Zufall, dass das Konzert von der Chemnitzer Wirtschaftsförderung organisiert und finanziert wird. Die Industriestadt hat sich nach der Wende nur langsam aufgerappelt, doch nun floriert sie wieder. Deswegen waren die Bilder von den Aufläufen der Rechten, in alle Welt übertragen, für das Image der Stadt eine Katastrophe. «Es geht jetzt auch darum, wieder andere Bilder in die Welt zu senden», sagt der Student.
Dass Musiker gegen Rechtsextreme anspielen, hat in Deutschland eine 40-jährige Tradition. Begonnen hatte es 1979 mit einem Protestfestival gegen die Neonazi-Partei NPD. Anfang der 90er-Jahre, als im sächsischen Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen und anderswo Flüchtlingsheime unter dem Gejohle von Neonazis und Anwohnern in Flammen aufgingen, sangen engagierte Künstler wie Herbert Grönemeyer, Marius Müller-Westernhagen oder die Toten Hosen vehement dagegen an.
Rock gegen rechts gab es zuletzt 2011 nach der Entdeckung der rechtsextremen Terrorzelle NSU sowie 2015, als in der Flüchtlingskrise wieder Asylheime brannten. Die politische Popmusik hat sich in Deutschland seit den 60er-Jahren immer als links verstanden, die Bands mussten zum Protest gegen rechts also nie getragen werden. Dafür gab es um die linksradikalen Punkrocker von Feine Sahne Fischfilet vor dem Chemnitzer Konzert einigen Streit. Die Gruppe aus Vorpommern war zwischen 2011 und 2014 in den Berichten des Landesverfassungsschutzes prominent erwähnt worden, weil sie zu Gewalt gegen Polizisten aufgerufen hatte. «Die Bullenhelme – sie sollen fliegen. Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein», sangen sie im Lied «Staatsgewalt» von 2011. Konservative Politiker und Medien kritisierten deswegen ihre Teilnahme an einem Konzert, das sich angeblich gegen Hetze und politische Gewalt wende.
CDU rügt Bundespräsident
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer rügte sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Dieser hatte in den sozialen Medien einen Aufruf zur Teilnahme an dem Konzert in Chemnitz geteilt. «Ich halte das für sehr kritisch», sagte Kramp-Karrenbauer. Verteidige man Rechtsstaat und Demokratie zusammen mit linksextremen Kräften, die ihrerseits gegen Ordnungshüter hetzten, hintertreibe man dieses Ziel.
Die Kritiker von Feine Sahne Fischfilet unterschlagen allerdings gerne, dass die Band jene Lieder, die ihr die geheimdienstliche Überwachung eingetragen hatten, seit Jahren nicht mehr singt. Entsprechend gilt die Gruppe für die Behörden seit 2014 auch nicht mehr als verfassungsfeindlich.
Nur zweihundert Meter von der Bühne an der Chemnitzer Johanniskirche entfernt liegt die Trauerstelle – der Ort, wo der Deutschkubaner Daniel H. mutmasslich von einem irakischen und einem syrischen Asylbewerber getötet wurde. Um einen Wall von Blumen und Kerzen stehen wütende Bürger und rechte Aktivisten. Sie haben die Trauer über den Toten symbolisch in Besitz genommen, wie sehr sich auch Daniel H.'s Witwe dagegen wehrte. Einsatzpolizisten haben alle Hände voll zu tun, um Handgreiflichkeiten zwischen linken Konzertgängern und rechten Trauerwächtern zu verhindern; später am Abend wird der Platz gesperrt.
«Manchmal ist es wichtig, allen zu zeigen, dass man nicht allein ist.»
Zuvor hatte die Stadt bereits zwei rechte Gegendemonstrationen verboten. Thügida, der thüringische Ableger der Dresdner Pegida-Bewegung, und Pro Chemnitz, die lokale rechte Heimatbewegung, wollten direkt neben dem Konzertgelände aufmarschieren. An der Trauerstelle steht ein hochgewachsener älterer Mann, der sich als «Akademiker» vorstellt, «jetzt Rentner». Das Konzert der «Linksextremen» nennt er «abartig». Wer zu Gewalt gegen Polizisten aufrufe und angesichts eines abscheulichen Mordes tanze statt wüte, sei ein Unmensch. Er habe die ganze letzte Woche mit «Pro Chemnitz» demonstriert. Die Medien hätten gelogen: Höchstens 5 Prozent Nazis seien da mitmarschiert, 95 Prozent seien normale Bürger gewesen wie er. Dann redet er sich so in Rage über die «Berliner Diktatur», von der sich Sachsen endlich befreien müsse, dass er kaum noch zu stoppen ist.
Etwas abseits der Konzertbühne, vor der die Masse wogt und tanzt, sitzt ein junger Flüchtling aus Eritrea auf einer Treppe. Er lebe seit drei Jahren in Chemnitz, sagt er in gutem Deutsch, und habe gerade eine Ausbildung zum Automechaniker begonnen. Er sei wegen der Musik hier, sagt er strahlend, die finde er klasse. Allerdings habe er zuerst zwei deutsche Freunde gefragt, ob es auch sicher sei.
Nach dem Tod von Daniel H. habe er die Wohnung nur noch verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Er habe sich gefürchtet. Was die beiden Flüchtlinge Daniel H. angetan hätten, findet er abscheulich. «Wir alle, Deutsche oder Einwanderer, wollen doch nur in Frieden leben.»
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