Botschaften der Stärke
Die Nato startet ihre grösste Übung seit dem Ende des Kalten Kriegs. Russland hat bereits mit Hunderttausenden Soldaten geprobt. Es geht um fiktive Szenarien und reale Erkenntnisse.

Es war ein Spektakel, wie es selbst erfahrene Militärbeobachter noch nie gesehen hatten. In breiten Formationen donnerten Schützenpanzer über die russische Steppe nördlich der Grenze zur Mongolei. Die Luft vibrierte von den Rotoren der Gefechtshelikopter. Jagdflugzeuge schossen durch den Himmel. Tausende Soldaten marschierten an der Tribüne vorüber, auf der Wladimir Putin Platz genommen hatte, Präsident und Oberkommandierender der russischen Streitkräfte.
Verteidigungsminister Sergei Schojgu hatte das Manöver «Wostok-18» Mitte September als das grösste in der Geschichte des neuen Russland bezeichnet; mit angeblich 300'000 Soldaten und 36'000 Maschinen. In Teilen habe es sogar «Sapad-81» übertroffen, die grösste Übung, welche die Sowjetunion je durchführte.
Mit diesen Dimensionen kann sich das Nato-Manöver «Trident Juncture 2018» nicht messen, das an diesem Donnerstag in Norwegen beginnt. Mit 50'000 Soldaten, 10'000 Fahrzeugen, 250 Flugzeugen und 65 Schiffen ist es trotzdem die grösste Übung der Allianz seit dem Kalten Krieg. «Das Szenario ist fiktiv, aber die Erkenntnisse werden sehr real sein», sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Mit Soldaten aus Finnland und Schweden proben Truppen aus allen 29 Mitgliedsländern den Ernstfall gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrags: den Angriff auf ein Land, der als Attacke auf alle gilt.
Russische Kritik
«Es ist wichtig zu zeigen, dass wir in der Lage sind, jeden Bündnispartner gegen jede Art von Gefahr zu verteidigen», betont Stoltenberg und spricht wie viele Nato-Diplomaten und Generäle nicht explizit aus, was alle wissen: Diese Botschaft richtet sich an Moskau. Verteidigungsminister Schojgu wetterte denn auch bei einem Treffen mit Generälen in Minsk am Mittwoch: «Die militärische Aktivität der Nato an den Grenzen der Russischen Föderation hat ein seit dem Kalten Krieg nie dagewesenes Mass erreicht.»
Seit Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim im Handstreich besetzt und einen Krieg im Osten der Ukraine begonnen hat, befürchten die Staaten an seinen Grenzen ähnliche Szenarien. Das Militär auf beiden Seiten übt häufiger, und die Manöver werden grösser. Um Signale zu senden, sind die Megaübungen ideal, der Nutzen für die Armeen ist jedoch umstritten.
«Wenn es um eine Botschaft der militärischen Stärke ging, dann ist sie gelungen», sagt ein westlicher Diplomat, der auf Einladung Moskaus bei «Wostok-18» zuschauen durfte. Gleichzeitig wirkten Technik und Ausbildung auf den erfahrenen Offizier wie aus einer vergangenen Epoche. So viele Kräfte auf so engem Raum zu konzentrieren, sei Ressourcenverschwendung.
Tatsächlich setzt Russland seit Beginn der Militärreform 2010 auf mobile Eliteeinheiten, die in der Ukraine und in Syrien ihre Effektivität unter Beweis stellen konnten. Moskau vertraut verstärkt auf Geheimdienste oder Söldner, deren Aktionen sich leugnen lassen, weil sie offiziell der Armee nicht angehören. Das stellt die Nato vor ein Problem: Wie soll man den Bündnisfall feststellen, wenn nicht eine Panzerarmee anrollt, sondern Offiziere des Geheimdienstes GRU im Hinterland oder im Internet Sabotage-Aktionen begehen?
«Sie müssen üben»
Anders als in Russland, wo eine Million Mann einer einheitlichen Führung unterstehen, muss die Nato als Militärallianz sicherstellen, dass die verschiedenen Armeen gut kooperieren. Um Schwachstellen zu identifizieren, seien Manöver unerlässlich, sagt Derek Chollet, Vizechef des Thinktanks German Marshall Fund. Er war unter Barack Obama im Pentagon für die Nato zuständig und formuliert es so: «Ohne Training wird niemand Fussball-Weltmeister, also müssen Sie üben.» Einsatzplanung, Logistik oder die Reaktion auf Cyber-Attacken müssten laufend getestet werden. Chollet freut sich, dass die USA trotz der Nato-kritischen Töne von Präsident Donald Trump einen Flugzeugträger mit 6000 Mann Besatzung entsenden, und rechnet damit, dass Moskau versuchen wird, mit Provokationen das Manöver zu stören.
Um Missverständnisse zu vermeiden, gibt es klare Regeln. Sie stehen auf 71 Seiten im «Wiener Dokument» der Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (OSZE), zu deren 57 Mitgliedern auch Russland und Weissrussland gehören. Hier ist festgehalten, dass über Manöver informiert werden muss, sobald mehr als 9000 Soldaten beteiligt sind. Übersteigt die Truppenzahl jedoch 13'000, dann muss der Gastgeber nicht nur informieren, sondern auch Militärbeobachter einladen und ihnen viel Zugang gewähren.
Dass je zwei Russen und Weissrussen nach Norwegen reisen, begrüsst Generalsekretär Stoltenberg – und kritisiert sogleich, dass Moskau seit 1989 nie Beobachter nach OSZE-Standard zuliess.
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