Tag der Menschen mit Behinderung«Blindenrechte sind wie Frauenrechte»
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga besuchte den Jazzpianisten Alexander Wyssmann in der Blindenschule Zollikofen.

Stimmen hinter einer breiten Tür und ab und zu Jazz, Melodien auf einem Klavier, ein Lachen, Klatschen. Kurz öffnet sich die Tür, einige Interessierte werden hineingebeten. Der Raum ist klein, hell und überstellt mit verschiedenen Instrumenten. Im hinteren Drittel des Zimmers stehen sich zwei Klaviere gegenüber, ein weisser Konzertflügel und ein kleines E-Piano.
Es ist früher Nachmittag, eine Unterrichtsstunde in der Blindenschule Zollikofen. Am Flügel sitzt Alexander Wyssmann, Konzertpianist, Musik- und Informatiklehrer. Am Piano übt Lucius Arz, Oberstufenschüler und Student an der Swiss Jazz School. Die beiden haben hohen Besuch.
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga steht mit Blick auf die beiden Spielenden in der Mitte des Raumes. Sie besucht Wyssmann und Arz an diesem Freitag im Vorfeld des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember 2020.
Lob von der Bundespräsidentin
Zwischen den Übungen betont Wyssmann das aussergewöhnliche Talent seines Schülers. «Du weisst gar nicht, wie toll du bist mit deinem Gehör», meint er zu ihm. Arz grinst kurz, erwidert nichts und beugt sich wieder über die Tasten. Wie viele Schülerinnen und Schüler der Blindenschule hat Lucius Arz eine angeborene Sehbehinderung, spezifischer das sogenannte Norrie-Syndrom, hinzu kommt eine starke Ausprägung der Autismus-Spektrum-Störung.
Gegen Ende der Stunde spielt Arz eine eigene Komposition vor. Ein sehr ruhiges Stück, er nennt es «I Just Go Away». Plötzlich, während er weiterspielt, lacht er. «Uää, falsch gespielt», meint er, aber weder die Bundespräsidentin, die ehemalige Konzertpianistin, noch die anderen Zuhörerinnen und Zuhörer vernahmen einen falschen Ton.
Nach seiner Darbietung wird geklatscht, und Sommaruga rühmt ihn, sie bedankt sich, insbesondere für die eigene Komposition. «Ich habe das Gefühl, ich werde wieder von Ihnen hören», sagt sie. Dann verlässt sie zusammen mit Alexander Wyssmann, seinem Blindenhund und der Schuldirektorin Carmelina Castellino den Raum.

«Anders Sehen»
Die kleine Gruppe besucht gemeinsam das neue Blindenmuseum auf dem Schulgelände mit der Ausstellung «Anders Sehen». Die Eröffnung hätte an diesem Freitag, dem 27. November, stattfinden sollen, ist jedoch aufgrund der aktuellen Situation auf nächstes Jahr verschoben worden.
Der Weg führt durch das Schulareal, eine grosse Rasenfläche, einige Gebäude, keine spielenden Kinder. Was nicht erstaunen soll, merkt Castellino an, denn am Nachmittag haben die meisten Kinder frei. Die Blindenschule in Zollikofen unterrichtet und betreut insgesamt ungefähr 200 Schülerinnen und Schüler, teilweise auch ambulante Fälle.
Seit einiger Zeit sei eine interessante Entwicklung zu beobachten, erzählt Castellino. «Wir haben tendenziell mehr Kinder und Jugendliche mit einer Mehrfachbehinderung, weniger sogenannte Reinblinde.» Der Grund dafür sei ein medizinischer. Die Möglichkeiten, Babys mit einer schweren Behinderung ohne weitere Komplikationen zu gebären, werden stetig ausgebaut. Gleichzeitig können Menschen mit einer Seheinschränkung mit verschiedenen Methoden behandelt werden.
Ein Prozess
Das Blindenmuseum befindet sich auf dem Schulareal, ein roter Neubau, helle, grosse Räume. Das Museum soll nicht nur der Wissensvermittlung dienen, sondern auch die Möglichkeit der Erfahrungen bieten. Gleich nach dem Eintreten führt Wyssmann die Bundespräsidentin in den Dunkelraum, eine Installation mit akustischen Beiträgen, welche den Besuchenden das Gefühl des absoluten Blindseins vermittelt. Wyssmann meint mit einem Lächeln: «Frau Bundespräsidentin, wenn Sie Angst haben, müssen Sie mir das sagen, ich komme Sie dann holen.» Schliesslich setzen sie sich an einen langen Holztisch im Ausstellungsraum.

Die beiden diskutieren verschiedene Fragen, der Schwerpunkt fällt aber schnell auf die Gemeinsamkeit, das Klavierspielen. Wyssmann erzählt von seinen zahlreichen Projekten, seiner Band namens Twilight, dann das Unterrichten, Anekdoten von seinen Schülerinnen und Schülern und schliesslich die Konzerte, das Auftreten, die Nervosität. Sie sagt: «Ich kenne das Herzklopfen, das Adrenalin noch heute, in meinem politischen Beruf, vor einer Bundesratssitzung zum Beispiel, wenn ich Entscheide für die Bevölkerung fällen muss, es ist wie ein Kampf.»
Ganz zum Schluss fragt sie ihn, ob wir als Gesellschaft genug für die Integration von blinden Menschen tun, besonders im Hinblick auf die Bewältigung ihres Alltags. «Wir sind auf gutem Weg», antwortet Wyssmann. Wichtig sei, dass wir uns gegenseitig tragen. «Alle nehmen von der Gesellschaft und geben der Gesellschaft, Hilfe benötigt jede und jeder», fährt er fort. «Die Rechte und Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung sind wie die Frauenrechte, ein jahrzehntelanger Kampf und immer noch keiner mit einem Ende, es ist ein Prozess.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.