Kritik am Sozialminister«Ich erwarte von Berset, dass er der IV das nötige Interesse entgegenbringt»
Ein SP-Bundesrat ohne soziales Händchen? Der Sozialminister hat mit einer Sparmassnahme bei der IV Empörung ausgelöst. Bürgerliche werfen ihm Desinteresse am Dossier vor.

«Beschämend», «unsensibel», «eklatante Fehlleistung»: So kommentieren Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Couleur die jüngste Sparübung der Invalidenversicherung (IV). Diesmal traf es Familien mit schwerbehinderten Kindern, für die Eltern plötzlich Hunderte Franken im Monat für medizinisch lebenswichtige Geräte selber bezahlen mussten.
Zwar hat das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) aufgrund des Berichts der «NZZ am Sonntag» und empörter Reaktionen mitgeteilt, die IV werde die vollen Kosten für die Geräte in einer Übergangsphase weiterhin vergüten. Obwohl das BSV die Neuregelung nochmals überprüfe, bleibe aber die Befürchtung, dass die Eltern nach der Übergangszeit auf hohen Kosten sitzen blieben, sagt Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap.

Einmal mehr wirft das Vorgehen der IV Fragen auf. «Wieso änderte die IV die Regeln für die Vergütung medizinischer Geräte für Kinder mit Geburtsgebrechen, ohne zuvor die finanziellen Folgen für betroffene Eltern zu bedenken?», fragt Fischer. Das BSV übernahm für die IV die Liste für medizinische Geräte aus der Krankenversicherung, eine Liste, die in erster Linie auf Erwachsenenmedizin ausgerichtet ist. Dies hat zur Folge, dass die Kosten für einzelne Geräte und Serviceleistungen für Kinder in einigen Fällen nicht mehr durch die IV gedeckt sind.
SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer bezeichnet das Vorgehen des BSV als «unsensibel». Zwar stehe hinter dem Entscheid die Absicht, die überhöhten Preise für medizinische Geräte zu drücken. «Doch darf dies nicht auf Kosten von behinderten Kindern und ihren Familien geschehen», sagt Meyer. Sie sei erleichtert, dass das BSV und der zuständige Departementschef bereit seien, eine andere Lösung zu suchen.
Bürgerliche vermissen Bersets Führung
Meyers Kritik ist bemerkenswert. Denn sie richtet sich im Grunde nicht nur gegen das BSV, sondern auch gegen dessen politischen Vorgesetzten: Bundespräsident Alain Berset, der wie Meyer der Sozialdemokratischen Partei angehört. Es ist nicht das erste Mal, dass Bersets Umgang mit der IV im Bundeshaus für Irritation sorgt. Seit bald zwölf Jahren ist der Freiburger nun für das Dossier zuständig – doch anders als etwa bei der Altersvorsorge oder dem Gesundheitswesen begegnet Berset der IV, so sehen es Beobachter, mit Desinteresse.
Deutlich werden vor allem bürgerliche Parlamentarier. Sie vermissen die politische Führung Bersets, wenn es um die IV geht. Anders seien gewisse Entscheide und Praktiken nicht zu erklären. Zu diesen Praktiken gehört die Methode zur Berechnung des Rentenanspruchs (des IV-Grades), die seit Jahren in der Kritik steht. Die IV nimmt für eingeschränkt arbeitsfähige Menschen teilweise unrealistische Verdienstmöglichkeiten an, gestützt auf statistische Löhne für gesunde Arbeitnehmende. Dies hat zur Folge, dass viele IV-Gesuchsteller keine oder eine zu tiefe Rente erhalten. Betroffen von den negativen Rentenentscheiden sind Tausende von Gesuchstellern, vor allem Arbeitnehmende mit tiefem Einkommen. Mehrere Gutachten stellten fest, dass diese Praxis zu ungerechten Rentenentscheiden führt.
«Es ist schon etwas seltsam, wenn ich mich als SVPler gegenüber einem SP-Bundesrat für eine sozialere Politik starkmachen muss.»
Vor zwei Wochen hat das BSV nun einen Lösungsvorschlag präsentiert, wie die Berechnung des Rentenanspruchs verbessert werden kann. Allerdings geschah dies erst, nachdem das Parlament den Bundesrat Ende 2022 mit einem Vorstoss zum Handeln aufgefordert hatte. Dabei hätte Sozialminister Berset bereits früher korrigierend eingreifen können. Sogar die SVP forderte 2021 in der Vernehmlassung zur IV-Verordnung entsprechende Korrekturen, weil die Berechnung des Rentenanspruchs nicht auf die Leistungsfähigkeit gesundheitlich eingeschränkter Menschen Rücksicht nehme.
Beschlüsse des Parlaments «übergangen»
«Auch wenn eine gerechtere Methode zur Berechnung des Rentenanspruchs zu 300 Millionen Franken Mehrkosten führt, muss man eine Korrektur vornehmen», sagt SVP-Ständerat Hannes Germann. «Die Versicherten haben ein Recht auf eine glaubwürdige IV.» Eine dezidierte Meinung hat Germann auch zur jüngsten Sparübung. Diese sei nicht nur «beschämend, sondern auch ein weiteres Beispiel dafür, wie salopp hier Beschlüsse des Parlaments übergangen werden». Denn bei der IV-Reform von 2022 widersetzte sich das Parlament der Absicht des BSV, für Kinder und Jugendliche mit Geburtsgebrechen eine Liste mit von der IV vergüteten Leistungen zu erstellen. Die Befürchtung war, dass eine solche Liste, die es in der Krankenversicherung gibt, den speziellen Bedürfnissen von behinderten Kindern nicht gerecht werde.
Germann sieht die Hauptverantwortung für solche Entscheide bei Berset. «Er ist nun mal der politisch Verantwortliche für die IV. Und es ist schon etwas seltsam, wenn ich mich als SVPler gegenüber einem SP-Bundesrat für eine sozialere Politik starkmachen muss.» Mattea Meyer erinnert hingegen an den Kostendruck, unter dem die IV nach wie vor steht. Wenn nun auch bürgerliche Politiker eine sozialere IV-Politik verlangten, sei dies erfreulich, aber gleichzeitig auch doppelzüngig.
Das Departement von Bundesrat Berset wollte sich auf Anfrage nicht zur Kritik am Sozialminister äussern und verwies auf eine Medienmitteilung des BSV vom Donnerstag, in der dieses eine Überprüfung der Kostenübernahme für medizinische Geräte ankündigte.
Lohr: «Eklatante Fehlleistung»
Mitte-Nationalrat Christian Lohr verfolgt die Politik der IV seit Jahren. Der Ansatz, eine Liste mit kostenpflichtigen medizinischen Geräten zu führen, entstamme der Erwachsenenmedizin, sagt Lohr. Diese Methode einfach auf Kinder mit Geburtsgebrechen anzuwenden, sei eine «eklatante Fehlleistung». Dass die IV auf öffentlichen Druck nun die Kosten vorerst wieder übernehme, sei zwar zu begrüssen. Aber für Lohr hat das Handeln der IV System. «Es ist ein IV-System, hinter dem ich nicht stehen kann.» Auch er vermisst die politische Führung. «Ich erwarte nun von Bundesrat Berset, dass er der IV das nötige Interesse entgegenbringt.»

FDP-Ständerat Damian Müller konstatiert ein immer gleiches Muster. «Bundesrat Berset vernachlässigt die IV, und jedes Mal braucht es die mediale Berichterstattung, damit Fehlentscheide korrigiert werden.» Ein solches Muster zeigte sich auch 2019. Diese Zeitung machte im Dezember 2019 publik, dass das BSV den kantonalen IV-Stellen Sparvorgaben machte. Auf einer Tabelle gab das BSV für jeden Kanton ein Leistungsziel im folgenden Jahr vor. Dies hätte dazu führen können, dass einzelne IV-Stellen bei der Rentengewährung zurückhaltender als andere gewesen wären, um das Leistungsziel zu erreichen. Nachdem das interne Papier an die Medien gelangt war, ordnete Berset eine Untersuchung gegen das BSV an.
Auch bei den medizinischen Gutachten im Auftrag der IV kritisieren Behindertenverbände, dass Berset zu spät eingegriffen habe. Während Jahren gab es Kritik an der Qualität dieser Gutachten und der Auswahl der Gutachter. In den Medien wurden Fälle publik, in denen einzelne Ärzte den Versicherten konsequent mit Standardbegründungen eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit absprachen. Solche Gutachten haben meist zur Folge, dass die Versicherten keine Rente bekommen. 2019 ordnete Berset eine externe Untersuchung der Gutachterpraxis an.
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