Sexismuskritik statt StrassenkampfBerns linksautonome Szene in der Identitätskrise
Nach der Randale der Linksextremen Ende April löste die Aktion sogar intern viel Kritik aus. Ist das eine Zeitenwende?

In der Nacht auf den 30. April brannte im Berner Lorrainequartier «die Luft». Aus der «Tour de Milidance» genannten Spontandemo heraus steckten Linksextreme Müllcontainer in Brand, zertrümmerten Scheiben und versprayten Wände, darauf folgten heftige Scharmützel mit der Polizei. Der gewaltsame Umzug beendete damit eine lange Phase, in der sich die linksautonome Szene eher ruhig verhielt; seit Beginn der Corona-Pandemie ist es das erste Ereignis dieser Dimension.
Tags darauf geschah dann etwas, was vor wenigen Jahren noch undenkbar war: Auf der linksautonomen Szeneplattform «barrikade.info» äusserte eine interne Stimme öffentlich Kritik. Bereits im ersten Satz brachte die Kommentatorin auf den Punkt, was dem Vernehmen nach viele in der Szene dachten: «Die ‹Tour de Milidance› war ein absoluter Reinfall – das wissen wir alle.»

Das publik gemachte interne Zerwürfnis wirkt wie eine Art Zeitenwende. Nun stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Kommt die Gewaltspirale wieder in Gang? Oder hat sich Berns linksautonome Szene tatsächlich gewandelt?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, hat es nicht leicht. In der Szene herrscht ein breites Misstrauen gegenüber den «bürgerlichen Medien». Trotzdem waren einige Szenekenner und Direktbeteiligte bereit, anonym mit uns zu reden. Andere verwiesen wiederum auf bereits veröffentlichte Stellungnahmen von Kollektiven, die auch ihre Sichtweise wiedergeben sollen.
Von Gewaltausbruch überrascht
Was genau geschah am 30. April, das für so viel Unmut innerhalb der Szene sorgte? Die globalisierungskritische Veranstaltung «Tour de Lorraine» zieht an diesem Abend Kapitalismusgegner aus der ganzen Schweiz nach Bern. Ein kleiner Kreis von Eingeweihten kapert den Moment für eine politische Aktion.
Vordergründig geht es bei der «Tour de Milidance» um mehr Freiräume. Was sie erwartet, wissen aber offenbar viele Leute nicht, als sie sich auf der Schützenmatte dem Umzug anschliessen. «Die meisten wollten einfach nur tanzend durch die Stadt ziehen», heisst es im Statement, welche die Aktion später als «verantwortungslos und unsolidarisch» kritisiert. Zu diesem Schluss kommt auch ein Szenekenner, der an diesem Abend vor Ort war. «Es war viel junges Partyvolk dabei», sagt er. «Viele liefen mit, weil sie dachten, ‹cool, eine spontane Demo für mehr Freiräume!›». Sie alle wurden heftig überrascht, als es zur Strassenschlacht mit der Polizei kam.

Die anonymen Demo-Organisatoren nahmen am Tag nach der Eskalation ebenfalls Stellung. Es sei sichtbar geworden, dass Militanz im Kampf um mehr Freiräume ein «essenzielles Mittel» darstelle, schreiben sie im Communiqué. «Zu beobachten ist auch, dass genau diese Militanz von vielen TINFA*-Personen ausgeübt und getragen wurde.»
Laut Insidern sorgte diese Behauptung in der Szene für Unverständnis. Unter dem Begriff TINFA* sind Trans-, Inter-, nicht binäre Menschen, Frauen und Personen ohne Geschlechtsidentität gemeint – also alles Personengruppen, die aus Sicht der linksautonomen Szene besonders unter dem «repressiven System» leiden.
Dass ausgerechnet sie ein Dönerlokal versprayt und Mülltonnen in Brand gesteckt haben sollen, wie von den Veranstaltern suggeriert, konnten einige nicht einfach so hinnehmen. Das zeigt das Statement, welche die Aktion kritisiert. «Die eskalierende Gewalt ging anscheinend allem voran von weissen Macker*innen ohne wirklichen politischen Hintergrund aus», heisst es da.
«Mackertum» hat ausgedient
Dieser Streit zeigt exemplarisch, welchen Wandel die linksautonome Szene in Bern zuletzt durchgemacht hat. Während es «woke» Anliegen in der Politik nach wie vor schwer haben und teilweise sogar belächelt werden, sind sie für viele Linke zum nicht verhandelbaren Dogma geworden.
Obwohl die ausserparlamentarische Linke Hierarchien seit jeher ablehnt, war es über Jahre jedoch insgeheim so, dass vor allem weisse, heterosexuelle Männer in der Szene den Ton angaben. Die queerfeministische Bewegung hat diese Machtstrukturen nicht nur infrage gestellt, sondern sie zum Einstürzen gebracht.
Das zeigen etwa die Vorgänge bei der «Revolutionären Jugend Gruppe Bern» (RJG) und der «Anarchistischen Gruppe Bern» – zwei Kollektive, die noch vor wenigen Jahren die Stadt regelmässig in Aufruhr versetzten. Die RJG hat sich Ende 2020 aufgelöst. «Wir sind all die Jahre massiv gescheitert, eine Basis für feministische Politik zu schaffen», heisst es im Schlussstatement selbstkritisch. Auch die «Anarchistische Gruppe Bern» hat laut eigenen Angaben mit sexistischen und rassistischen Verhaltensmustern zu kämpfen. Über Jahre seien diese durch «Schweigen, Wegsehen, Angst vor sozialen Konsequenzen und Hierarchien» ermöglicht worden, heisst es in einem Schreiben vom Oktober 2022.
Der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) spricht von einem Generationenwechsel, der in der Szene stattgefunden habe. «Viele vertreten die Haltung, dass Militanz nicht immer hilfreich ist.» Dass Themen wie Feminismus und Sexismusbekämpfung eine immer wichtigere Rolle einnehmen, ist auch ihm nicht entgangen. Veranschaulicht hat diesen Wandel etwa der Antifa-Umzug vom Herbst 2022, wo viele queerfeministische Parolen und lilafarbene Frauenstreik-Fahnen zu sehen waren.

Aus der Szene klingt es ähnlich: «Das ‹Mackertum› war bei uns früher viel ausgeprägter», sagt ein Insider. Gewalt werde zwar von vielen nach wie vor als legitimes Mittel erachtet. «Aber es wird viel mehr hinterfragt und reflektiert, wann sie zur Anwendung kommt.» Früher hätten bei solchen Aktionen auch Personen teilgenommen, welche die politischen Ideale gar nicht teilten, sondern einfach den Adrenalinrausch gesucht hätten.
Der Corona-Konflikt
Was die linksautonome Bewegung ebenso stark durchgerüttelt hat, war die Corona-Pandemie. Das bestätigen alle Gesprächspartner. Die Rede ist von einer tiefgreifenden Spaltung. Auffallend war, wie schon fast gespenstisch ruhig es in jener Zeit in der Szene war. Obwohl eigentlich alle Ingredienzen da gewesen wären, um anarchistische Kräfte auf die Strasse zu treiben: Die Mächtigen schränken die Freiheiten massiv ein – sogar das Recht, zu demonstrieren.
«Als Anarchist, der jede Form von Hierarchie ablehnt, befand auch ich mich in einer ambivalenten Situation», sagt einer der Szene Angehöriger, um sogleich anzufügen: «Ich kam jedoch meist zum Schluss, dass ich wohl auch so entscheiden würde, wenn ich Bundesrat wäre.» Das daraus entstandene Protestvakuum füllten neu formierte Kräfte: die Corona-Skeptiker und Impfgegner. Phasenweise zogen sie im Wochentakt durch Berns Gassen.
Weil zum Teil auch zwielichtige Personen mit rechtsradikalem Hintergrund mitmarschierten, fühlten sich viele Linksautonome verpflichtet, ihnen entgegenzutreten. Die vereinzelten Gegendemos blieben jedoch überschaubar. Was für zusätzliche Irritation sorgte: Plötzlich waren es rechte Kreise, die für Demonstrationsfreiheit und gegen Polizeigewalt kämpften und dafür auch noch urlinke Slogans wie «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht» auf Transparente pinselten.

«Man konnte sich nicht einigen, wie man sich positionieren soll», sagt ein Szenekenner. Findet man es nun gut, wenn die Polizei mit Gummischrot die «rechten Schwurbler» vertreibt? Oder gehört repressives Vorgehen immer verurteilt? «Diese Frage polarisierte in höchstem Mass», meint er.
Laut Reto Nause waren jedoch die Fronten nicht so klar, wie von der linksautonomen Szene kolportiert. «Bei den Demos liefen keineswegs nur ‹rechte Schwurbler*innen› mit, sondern auch Leute vom linken Rand», sagt er. Dass dies zu heftigen internen Diskussionen geführt hat, bestätigen auch die anonymen Insider. «In der linken Szene gab es schon immer Anhänger von Verschwörungstheorien», meint einer. Diese seien während Corona zu «Schwurblern» geworden und hätten die Szene verlassen. «Auch die Impffrage spaltete die Szene», betont ein anderer Insider.
Nause bleibt skeptisch
Was zudem vorgebracht wird: Die Polizei als sorgsam gepflegtes Feindbild bot in den vergangenen Jahren weniger Angriffsfläche. Seit der Einkesselung von über 200 Personen bei der Afrin-Demo 2018 und den heftigen Scharmützeln vor der Reitschule im selben Jahr kam es zu keinen gröberen Konflikten mehr.

Diese Tatsache wird auch im kritischen Statement zum Umzug durch die Lorraine angetönt: «In letzter Zeit hatten wir in Bern das Glück, dass viele Demos und Aktionen relativ unbehelligt geduldet wurden», heisst es dort. Mit dem Anzünden von Containern sei das entspannte Verhältnis einmal mehr aufs Spiel gesetzt worden, «ohne dass damit ein politisches Anliegen auch nur ein bisschen vorangebracht wurde».
Corona, Sexismusdebatte, Gewaltkritik: Wie nachhaltig ist der Wandel, der in der Szene geschieht? Reto Nause bleibt trotz all der Vorzeichen vorsichtig: «Das Gewaltpotenzial ist nach wie vor gross.» Es sei zu befürchten, dass die Ruhe während Corona nur vorübergehend war. Das hätten auch die jüngsten Krawalle in Basel oder Zürich gezeigt.
Ein Insider glaubt derweil zu wissen, wie die Szene aus ihrer Identitätskrise kommen könnte. «Es bräuchte wieder einmal eine Anti-Reitschule-Initiative der SVP. Das würde wieder mehr Leute mobilisieren und die Szene zusammenrücken lassen.»
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