Risiko und Chance zugleichAutobahnschneise im Ostring soll unter die Erde
Die Stadt Bern will den Autobahnabschnitt im Ostring, der mitten durch das Siedlungsgebiet führt, zurückbauen. Nun stellt sich die Frage nach der neuen Nutzung.

Im Osten der Stadt Bern durchschneidet die Autobahn A6 seit Jahrzehnten das Siedlungsgebiet. In Zukunft soll sie unter den Boden verschwinden. Zurück bleibt dannzumal eine fast drei Kilometer lange Schneise, die neu genutzt werden kann. Die Frage ist, wie?
Erste Ideen haben die Stadt Bern und die Anrainergemeinden Ostermundigen und Muri bereits von Planerteams abgeholt. Grünflächen, Boulevards, quartierverbindende Wege und bauliche Weiterentwicklung: So lassen sich die ersten Inputs grob zusammenfassen. Was ansprechend klingt, könnte nicht ganz einfach umzusetzen sein, wie Beispiele aus dem In- und Ausland zeigen.
Platz machen für den Fortschritt
Namentlich im Autoland USA macht man sich in den Städten seit einigen Jahren Gedanken über die Verkehrszukunft. Grüner, quartierorientierter und lebenswerter soll sie werden, indem in die Jahre gekommene, teuer zu sanierende Autobahnen zurückgebaut werden.
Mitte des 20. Jahrhunderts galten Autobahnen als Hauptschlagadern des Verkehrs in vielen amerikanischen Städten. Pendler und Güter sollten rasch ins Zentrum und hinaus gelangen. Die Schneisen des Fortschritts frassen sich quer durch bestehende Siedlungen, oft durch jene von Schwarzen oder Einwanderern.
Für den Bau der Autobahnen und für Geschäfts- und Bürokomplexe entlang der Schnellstrassen mussten bestehende Gemeinschaften Platz machen. Wer es sich leisten konnte, zog weg von den lärmigen Autobahnen. Zurück blieb, wer weder Geld noch Perspektiven hatte.
«In Beton gegossener Rassismus» nannte dies der amerikanische Verkehrsminister Pete Buttigieg 2021 in der «New York Times».
Aufgehübscht und teuer
Eine Stadt, die den Rückbau eines sechsspurigen Autobahnteilstücks wagte, war Rochester im Nordwesten des US-Bundesstaats New York. Stattdessen wurde ein Boulevard mit Velo- und Fussgängerwegen angelegt. Das übrige Land wurde zur Weiterentwicklung ausgeschrieben. Sie war jüngst noch im Gang.
Dass Lärm und Dreck der Autobahn weg sind, ist für die örtliche Bevölkerung ein Segen. Doch nicht wenige Anwohner sehen einer Gentrifizierung der Gegend mit Sorge entgegen. Grüner, verkehrsberuhigt und aufgehübscht dürfte der Stadtteil vermehrt Wohlhabendere anziehen. Die Liegenschaftspreise steigen und die Ärmeren werden verdrängt. Bürgerkomitees fordern darum seit geraumer Zeit mehr Mitsprache.
Auch wenn in Bern kleinere Brötchen gebacken werden als in grossen amerikanischen Städten, die Frage der Gentrifizierung dürfte früher oder später auch im Ostringquartier auf den Tisch kommen.
Umstrittenes Projekt in Südbünden
Was geschieht, wenn sich ein Teil der Bevölkerung nicht mitgenommen fühlt, lässt sich im südbündnerischen Roveredo studieren. 2016 verschwand dort die San Bernardino-Autobahn A13 in einen Umfahrungstunnel. Wo einst die Lastwagen und Autos mitten durchs Dorf brausten, klafft noch immer eine Wunde im Ortsbild, die darauf wartet, geheilt zu werden.
Unterdessen wurden etwas Grün angesät und ein paar Parkplätze und Fusswege geteert. Alles eher provisorisch, denn die Gemeindebehörden möchten, gemeinsam mit einem Zuger Immobilienkonzern, ein ambitioniertes Projekt namens «Roveredoviva» umzusetzen. Es sollte dem Südbündner Ort einen Entwicklungsschub verleihen, so jedenfalls das Versprechen des Immobilienentwicklers.
Geplant sind in der 2300-Seelen-Gemeinde 70 bis 90 neue Wohnungen, Flächen für Dienstleistung und Gewerbe ein Parkhaus sowie zwei neue öffentliche Plätze und ein Park.
Von den grossen Plänen fühlten sich manche in Roveredo jedoch überrollt. Besorgte Bürgerinnen und Bürger befürchteten, dass das Grossprojekt ihr Dorf nicht zum Guten verändern würde.
2017 unterzeichneten 500 Personen, also etwa ein Viertel der Bevölkerung eine entsprechende Petition. Die sogenannte «Ricucitura», also das Wiederzusammenwachsen des einst durch die A13 geteilten Dorfs sorgt bis heute für Diskussionen in der unterdessen mehrfach vom Kanton Graubünden zwangsverwalteten Gemeinde.
Seit der Petition hat zwar eine Mehrheit der Bevölkerung dem Landverkauf an den Investor zugestimmt. Doch nach wie vor schlägt dem Projekt Skepsis entgegen. Nach allfälligen Rekursen könnten die Bauarbeiten 2024 beginnen – das hofft jedenfalls der aktuelle Gemeindeverwalter, wie er der Tessiner Zeitung «La Regione» im Februar sagte.
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