Tunesien macht vor, dass es anders geht
Die tunesische Verfassung ist das Werk von Verhandlungen und Kompromissen. Sie ist wegweisend für die arabische Welt.

Doch, gelegentlich, sehr selten, gibt es noch gute Nachrichten aus Arabien. Gewiss, Syrien sieht trotz Friedenskonferenz Jahren der Agonie entgegen, erschüttert das brüchige Fundament der ohnehin wankenden Nachbarn – Libanon, Jordanien, Irak, selbst die Türkei. Libyen sinkt mit der Fragmentierung in lokale Milizenherrschaften auf den Vor-Ghadhafi-Stand zurück. Ägypten hat soeben in grotesker Verkehrung der einstigen Ideale eine Jubelfeier für die Militärherrschaft ausgerichtet. Nachdem Armeechef Abdel Fattah al-Sisi heute Montag zum Feldmarschall befördert wurde, hat Ägyptens Militär grünes Licht für seine Präsidentschaftskandidatur gegeben. Bei den Wahlen im kommenden April ist mit einem klaren Sieg von Sisi zu rechnen.
Aber Tunesien – das kleine Land im Westen, wo vor gut drei Jahren das politische Erdbeben begann – demonstriert, dass es anders geht. Zwei Jahre haben die Mitglieder einer Nationalversammlung über eine Verfassung gestritten, haben politische Morde an Oppositionellen, salafistischen Terror, Regierungskrisen überstanden, und nun mit überwältigender Mehrheit eine neue Verfassung angenommen.
Tunesiens Verfassung weist Weg in die Moderne
Das neue Dokument ist nicht ohne Widersprüche: Der Staat schützt das «Heilige», gewährleistet aber auch die Religionsfreiheit, sogar – undenkbar in anderen arabischen Ländern – das Recht auf gar keinen Glauben. Überhaupt weist er den Weg in die Moderne: Der Islam ist Staatsreligion, aber die Scharia nicht Rechtsquelle. Tunesiens Frauen, seit den Tagen von Präsident Habib Bourguiba geschützt durch die liberalsten Gesetze der Region, sind Männern nun in Pflichten und Rechten gleichgestellt. Ja, der Staat hat die Aufgabe, Frauenrechte zu schützen.
Und dies alles gelang, obwohl Tunesiens Islamisten der Ennahda-Partei die Mehrheit in der Versammlung haben. Warum schafft das kleine Tunesien, woran das grosse Ägypten scheitert? Warum hat Ägypten, das bevölkerungsreichste Land der Region, vor ein paar Wochen eine zweite Verfassung angenommen, keinen grossen Wurf, aber auch kein Katastrophendokument und sicher ausbaufähiger als der erste Versuch von Mohammed Mursi und seinen Muslimbrüdern?
Verfassung Ägyptens spiegelt Spaltung des Landes
Ägyptens erste Post-Mubarak-Verfassung hatte – nach dem Sieg der Islamisten in Parlament- und Präsidentschaftswahlen – den Geist der Theokratie geatmet. Ägyptens jüngste ist oft vage, huldigt dem Militär und der Polizei, aber enthält auch allerlei Nützliches. Und doch hat sie die Spaltung des Landes nicht überwunden, sondern nur dokumentiert: Wer gegen die Verfassung war, ging nicht mal zur Abstimmung. Das Ergebnis war erwartungsgemäss sowjetisch.
Verfassungen sind Konsensprojekte. Sie beziehen ihre Kraft aus der Anerkennung möglichst vieler. Eine Verfassung, die von einem Teil der Gesellschaft nicht gebilligt wird, kann keine einende Wirkung entfalten. Gegen Mursis Verfassung liefen die säkularen Ägypter Sturm, gegen die jetzige Verfassung die Islamisten. Der Inhalt ist dabei – entgegen verbreiteter Meinung – nicht so entscheidend wie der Prozess. Umgekehrt taugt die beste Verfassung nichts, wenn die Bürger nicht darauf vertrauen, dass ihre Versprechen auch umgesetzt werden. Das klingt banal. Aber Autokratien schmücken sich gern mit hübschen Artikeln. Die sowjetische Verfassung aus dem Terrorjahr 1936 war ein Fest der Freiheit. Wichtiger als das Papier aber ist die politische Wirklichkeit.
Widerwillige Flexibilität bringt kleine Fortschritte
Auch deshalb ist Tunesien beispielhaft: Spätestens nach dem katastrophalen Scheitern der ägyptischen Islamisten hat Ennahda den Zwang zum Kompromiss begriffen. Tunesiens Armee ist schwach, die Zivilgesellschaft stark, und das senkt die Hoffnung auf Heilsbringer wie in Ägypten. Sie hat, wenn auch spät, die Regierung an Unabhängige übergeben. Diese widerwillige Flexibilität unterscheidet Tunesien von allen anderen Ländern der Region. Im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Radikalismus ist sie nur ein kleiner Schritt. Aber wenigstens einer in die richtige Richtung.
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