«Bitte vergib mir – ich wurde gezwungen»
Eben noch kämpften sie in den Strassen von al-Zawiya und Misrata erbittert gegeneinander. Jetzt kreuzen sich ihre Wege erneut. Eine Begegnung zwischen zwei Männern steht für das, was Libyens Gesellschaft vor sich hat.

In Tripolis herrscht das Chaos: Trinkwasser, Treibstoff und Lebensmittel sind knapp, immer wieder fällt der Strom aus, Häuser werden geplündert. Auf Anhieb weiss niemand, ob er es mit einem Rebellen oder einem übrig gebliebenen Unterstützer von Libyens langjährigem Machthaber Muammar al-Ghadhafi zu tun hat. Der Umgang beider Seiten miteinander in diesen chaotischen Tagen nach der Eroberung von Tripolis durch die Rebellen birgt jede Menge Sprengstoff – nicht selten stehen sich unverhofft zwei feindlich gesinnte Männer gegenüber.
Nisar Hussein, ein rund 30-jähriger Aufständischer aus der Küstenstadt al-Zawiya nahe Tripolis, reist zum ersten Mal in die Hauptstadt, seit sie von den Rebellen erobert wurde. Eigentlich will er seinen Onkel besuchen, sich ein wenig umsehen, zur Sicherheit ist er schwer bewaffnet.
Unverhoffte Begegnung
Plötzlich tritt aus einem Haus nahe dem Stadtviertel Bab al-Aziziya ein Mann heraus, den Nisar sofort wiedererkennt: Es ist ein früherer Elitekämpfer Ghadhafis. Und auch der etwa 40-Jährige reagiert sofort, denn die beiden Männer sind sich in al-Zawiya schon einmal begegnet. Dann blickt er dem mit einer Kalaschnikow und einer Pistole bewaffneten Nisar ins Gesicht und sagt: «Bitte vergib mir. Ich wurde gezwungen, das zu tun, was ich getan habe.»
Er sei unschuldig, sagt der einstige Ghadhafi-Kämpfer weiter und sucht nach Ausflüchten. «Ich wollte bloss ein Auto. Ghadhafis Kräfte haben allen Freiwilligen doch Autos versprochen, Geld und Häuser. Ich habe Kinder. Ich stehe auf eurer Seite.»
Volkskomitees gegen Selbstjustiz
«Rühr' ihn nicht an», sagt da plötzlich Mohamed al-Fessani, Mitglied des von jungen Rebellen gegründeten Volkskomitees des Bezirks, zu Nisar. «Die neuen Behörden werden sich schon um ihn kümmern. Und sag niemandem, wo er wohnt.» Das Volkskomitee will verhindern, dass die Menschen nun ihren Rachegelüsten freien Lauf lassen und Selbstjustiz üben. «Ich gebe dir, was du willst und wann immer du willst», versucht es der ehemalige Ghadhafi-Kämpfer wieder. «Bitte vergib mir.» Mit eisiger Stimme sagt Nisar schliesslich: «Gut. Mach dir keine Sorgen.»
Doch als sich Nisar von dem Mann entfernt, kann er seine Wut kaum noch unterdrücken. «Er war in al-Zawiya. Ich habe sie gesehen, ihn und seine Truppe», schreit er. «Er hat getötet, entführt und vergewaltigt», bricht es aus ihm heraus. «Ich habe Lust, ihn zu töten, für alles, was er getan hat. Er verdient es nicht anders.»
Angst vor Vergeltung
Im Haus sitzt Jussef, der Vater des Mannes, der an Ghadhafis Seite kämpfte, und bittet die Rebellen um Hilfe für seinen Sohn, um eine «sichere Lösung». Jussef ist wohl einer der wenigen früheren Ghadhafi-Getreuen des Viertels, die noch in Tripolis ausharren und nun mit der Angst vor Vergeltung leben. Nach Aussage der Rebellen gehörte Jussef einem Revolutionskomitee auf Regierungsseite an, er selbst redet aber lieber nicht darüber.
Seit 45 Jahren lebt Jussef hier. Und nun gibt es in Tripolis überall Kontrollposten, Autos werden angehalten, Bewohner von ausserhalb nach dem Grund ihres Besuchs gefragt. Seine Nachbarn gehören nun meist der aufständischen Seite an. Im Moment funktioniere es mit den Rebellen aber gut, sagt er. Sie brächten Lebensmittel und Wasser in die Stadt.
Zwar muss Jussef widerwillig zugeben, dass es ihm unter Ghadhafi gut ging. «Ich hatte Essen, eine Arbeit, es war Frieden.» Doch die Zeiten haben sich für immer geändert. «Früher war ich loyal zu Ghadhafi. Jetzt werde ich es gegenüber den Rebellen sein.»
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