Theresa Mays selbstverschuldetes Chaos
Nach dem Wahldebakel der Konservativen geht Grossbritannien mit geschwächter Regierung in die Brexit-Verhandlungen. BZ-Korrespondent Sebastian Borger zur Niederlage von Theresa May.
Wie viele englische Vokabeln hat auch das Wort «Mayhem» einen kontinentaleuropäischen Ursprung. Es kann seine Verwandtschaft mit dem Verb «maim» (verstümmeln) nicht leugnen, das Lexikon gibt eine ebenso präzise wie knappe Übersetzung: Chaos.
An Glaubwürdigkeit und Macht verstümmelt steht Theresa May an diesem Wochenende vor einem selbstverschuldeten Chaos. Mutwillig hat die britische Premierministerin eine unnötige Unterhauswahl vom Zaun gebrochen. Dann führte die 60-Jährige eine Wahlkampagne, von der ein Loyalist am Freitagmorgen sagt, seine Partei habe sich nicht ins Knie, sondern in den Kopf geschossen.
Den um drei Jahre vorgezogenen Urnengang begründete May mit dem «nationalen Interesse». In Wirklichkeit ging es um das Interesse ihrer Partei: Angesichts anhaltender Umfragewerte, die den Konservativen einen Vorsprung von bis zu 20 Punkten vor Labour attestierten, wollte die Premierministerin einen Erdrutschsieg feiern, nicht zuletzt mit Hilfe von Wählern der EU-feindlichen, als Partei in Trümmern liegenden Ukip.
Was viele Kommentatoren achselzuckend abtaten nach dem Motto «So sind Politiker nun einmal», war in Wirklichkeit ein politischer Kardinalfehler. Im gleissenden Scheinwerferlicht der Wahlkampagne kam eine höchstens zweitrangige Kommunikatorin politischer Botschaften zum Vorschein. Ehrlicherweise hätte Mays Leitmotiv lauten müssen: Ich weiss zwar auch nicht genau, was ich will, aber lasst mich nur machen. Dazu sind die Briten zum Glück zu misstrauisch.
Für Corbyn gilt beinahe spiegelbildlich: Der Labour-Vorsitzende, 68, verfolgte unbeirrt seine Kampagne: hoffnungsvoll, dynamisch, populistisch, mit klar umrissenen Reformideen wie der Verstaatlichung von Eisenbahn und Post sowie mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser.
Labour-Chef Jeremy Corbyn fordert am Morgen Theresa Mays Rücktritt.
Mag die Finanzierung solcher Vorhaben auch mehr als vage geblieben sein - erstmals seit einem Vierteljahrhundert kämpfte die alte Arbeiterpartei von einer klar linken Position aus. Weil May ihr Programm in der Mitte angesiedelt hatte, ist es Corbyn auf einen Schlag gelungen, Grossbritanniens politische Debatte ein Stück weit nach Links zu zerren. Kurioserweise entspricht die Brexit-Insel damit wieder mehr dem kontinentaleuropäischen Mainstream.
Corbyns grosses Verdienst ist vor allem, dass er die junge Generation nicht nur mitriss, sondern auch zum Gang an die Wahlurne bewegte. Dass die Beteiligung so hoch lag wie bei Unterhauswahlen seit 20 Jahren nicht mehr, sollte jeden Demokraten freuen, zumal über dem Urnengang der dunkle Schatten des islamistischen Terrors lag.
Dem Linksaussen die Geschicke des Landes anzuvertrauen, dazu fehlte den Briten dann doch die Experimentierfreude. May erhält eine allerletzte Chance, wenn auch innerparteiliche Rivalen wie Boris Johnson und David Davis die waidwunde Chefin belauern. Sie ist jetzt auf die nordirischen Unionisten angewiesen, denen ein Ausgleich mit Brüssel stärker am Herzen liegt als manch englischem Nationalisten in der konservativen Fraktion.
Die Premierministerin hat Gelegenheit, ihren Kurs auf einen bedingungslosen harten Brexit zu überprüfen. Die 60-Jährige muss ihren Stil ändern, konsensualer Politik machen, die Interessen der 48 Prozent Brexit-Gegner im Auge behalten. Sonst wird sie das Jahresende nicht in der Downing Street erleben.
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