Der machtgierige Mann vom Bosporus hat nun freie Hand
51,4 Prozent der türkischen Bevölkerung stimmten am Wochenende der Einführung des Präsidialsystems zu. Sieger Recep Tayyip Erdogan will nun mit der Todesstrafe vorwärtsmachen und den Ausnahmezustand aufrechterhalten.
Wer Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend zuhörte, ohne von dem äusserst knappen Ergebnis der Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems zu wissen, hätte annehmen können, der 63-Jährige spreche über einen überwältigenden Erdrutschsieg.
Vom Balkon seiner Istanbuler Residenz am Bosporus aus dankte er Tausenden seiner Anhänger für ihr Ja zum Umbau des Staates und stellte unter dem Jubel der Menge die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. Zugeständnisse an die fast 24 Millionen Menschen, die gegen seinen Plan stimmten, gab es nicht, im Gegenteil. Erdogan lag noch nie viel am Konsens mit Andersdenkenden, und das wird sich auch jetzt nicht ändern. Dabei ist das Land tief gespalten, wie das Referendum gezeigt hat.
Die grösste Reform
Rund 51 Prozent der Wähler votierten für die Umwandlung der Türkei in eine Präsidialrepublik, in der Erdogan als Staatsoberhaupt möglicherweise bis 2029 mit weitreichenden Machtbefugnissen regieren kann. Die grösste Reform in der Türkei seit Errichtung der Republik im Jahr 1923 ist demnach perfekt – seit Staatsgründer Atatürk hat kein Politiker eine solche Machtfülle gehabt.
Als die Resultate nach Ende der Stimmabgabe einliefen, erklang aus den Kirchen der Istanbuler Innenstadt zufällig gerade das Glockengeläut zum Osterfest: Die christlichen Gotteshäuser läuteten damit gewissermassen die neue türkische Republik ein.
Erdogan richtet nun bereits den Blick auf die Präsidenten- und Parlamentswahl 2019, bei der das neue System offiziell in Kraft gesetzt werden soll. Bis dahin gebe es noch viel zu tun. Als Antwort auf Rufe seiner Zuhörer nach der Todesstrafe sagte er, dies sei eine seiner ersten Aufgaben. Sollte es im Parlament nicht genügend Stimmen für eine solche Verfassungsänderung geben, werde eben erneut ein Referendum angesetzt, versprach er.
Dass ein solcher Schritt das Ende der türkischen EU-Bewerbung zur Folge hätte, ist Erdogan offenbar egal. Die Türkei erwarte vom Ausland und besonders von jenen Ländern, die als Verbündete bezeichnet würden, Respekt vor dem Ausgang der Volksabstimmung, sagte er mit Blick auf die jüngsten Spannungen zwischen der Türkei und der EU sowie den USA.
Erdogan-Gegner in der Türkei befürchten Schlimmes. Zum Beispiel Ali Bayramoglu, einer der bekanntesten Journalisten der Türkei und über lange Jahre ein Anhänger des Präsidenten. Kürzlich hatte Bayramoglu verkündet, beim Verfassungsreferendum mit Nein zu stimmen. Die Quittung erhielt der Journalist am Sonntag bei der Stimmabgabe in einer Grundschule in Istanbul: Bayramoglu wurde von Erdogan-Anhängern verprügelt.
Was ihm widerfahren sei, könne als Symbol für die Lage des Landes insgesamt verstanden werden, sagte Bayramoglu später. Erdogan und seine Regierungspartei AKP herrschten mit eiserner Faust, Widerstand werde nicht geduldet, lautet seine Schlussfolgerung. Das Referendums lässt Bayramoglu und andere befürchten, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der staatlicher Druck auf Andersdenkende zum Bestandteil der Staatsräson wird.
Wie geht es jetzt weiter?
Zunächst muss die Wahlkommission ein amtliches Endergebnis verkünden. Kommissionschef Sadi Güven kündigte an, das werde «unter Berücksichtigung der Einspruchsfrist in spätestens elf bis zwölf Tagen» geschehen. Mit der Veröffentlichung ist die Verfassungsänderung in Kraft. Dann beginnt die schrittweise Umsetzung der Reformen. Zunächst treten nur drei von zahlreichen Änderungen in Kraft:
Mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger darf der Präsident wieder einer Partei angehören. Erwartet wird, dass Erdogan wieder offiziell Chef der Regierungspartei AKP wird.
Ausserdem werden die Militärgerichte abgeschafft.
Zudem beginnen die Vorbereitungen für die Neubesetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte, was innerhalb von dreissig Tagen abgeschlossen sein soll.
Ministerpräsident und Regierung bleiben bis zur nächsten Wahl im Amt, die für November 2019 geplant ist, aber vorgezogen werden kann. Bei dieser Abstimmung werden erstmals zeitgleich sowohl das Parlament als auch der Präsident gewählt. Erst danach wird der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef.
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