Freud und die US-Generäle
Der Fall Petraeus erinnert an die Fälle des Begründers der Psychoanalyse in Wien. Nur steht heute dabei viel mehr auf dem Spiel.

Einer der ersten Fälle von Sigmund Freud war eine junge Frau aus bestem Haus mit dem Namen Dora. Auf der Couch enthüllte sie im Lauf der Therapiestunden Schritt für Schritt ein weitgespanntes Netz von sexuellen Verfehlungen. Kurz gesagt: Im gottesfürchtigen Wien trieb es jede mit jedem, wie Freud zu seinem grossen Entsetzen erfuhr. Die gutbürgerliche Moral war nicht mehr als eine morsche Fassade.
Mobbing-Fall wird zur Staatsaffäre
Die Ermittler im Fall Petraeus im Pentagon müssen sich derzeit ähnlich fühlen wie Freud im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vor einigen Monaten meldete sich in Tampa eine Frau namens Jill Kelley beim FBI. Sie ist befreundet mit General David H. Petraeus, einst Oberkommandierender in Afghanistan und nun Chef des CIA. Ebenfalls befreundet ist sie mit seinem Nachfolger, Gen. John Allen. Jill Kelley fühlte sich bedroht durch anonyme E-Mails. Die FBI-Agenten finden heraus, dass die Absenderin dieser Mails Paula Broadwell ist, die Biografin und – wie sich bald herausstellen wird – auch die Geliebte von Petraeus.
Was als harmloser Mobbing-Fall begonnen hat, entwickelt sich zum grossen Entsetzen der FBI-Agenten nicht nur zu einer weitverzweigten Sex- , sondern zu einer waschechten Staatsaffäre mit möglicherweise unvorhersehbaren Konsequenzen. Petraeus tritt zurück, die Spitze der US-Armee steht da als Bande geiler Ehebrecher, und der Geheimdienst ist ohne Chef. Petraeus gilt als einer der fähigsten US-Generäle aller Zeiten, und auch der militärische Ruf von Allen ist tadellos. Die beiden Männer würden gerade jetzt dringend gebraucht werden. Im Nahen Osten droht die Lage aus dem Ruder zu laufen: In Libyen ist der Anschlag auf die amerikanische Botschaft nach wie vor nicht geklärt, und im Iran spitzt sich die Atomwaffenfrage zu.
Bevorstehendes Albtraumszenario
Am dramatischsten ist die Lage jedoch in Syrien. Dort liefern sich Sunniten, Schiiten, Alawiten, Kurden, Drusen und Christen einen blutigen Bürgerkrieg, der die gesamte Region zu erfassen droht. Thomas Friedman spricht in der «New York Times» von einem bevorstehenden Albtraumszenario: «Der gesamte Nahe Osten explodiert in einer gigantischen Sound- und Lichtshow eines Bürgerkrieges. Weil mit Syrien eine tragende Säule einstürzt, kollabieren Staaten und es kommt zu Flüchtlingsströmen. Und das Chaos dehnt sich auf die gesamte Nachbarschaft aus.» Um diese explosive Lage unter Kontrolle zu halten, wären Männer wie Petraeus und Allen dringend nötig.
Die Psychoanalyse und Freud haben einst dazu beigetragen, eine verlogene bürgerliche Sexualmoral zu bodigen und die Menschen freier zu machen. Ganz anders liegt der Fall heute: Internet und soziale Medien sind im Begriff, eine der bedeutendsten Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, die Privatsphäre, zu zerstören. Auch die besten Generäle und die aufrichtigsten Politiker sind nur Menschen – oder meist nur Männer. Indem wir ihnen keine Intimsphäre mehr zubilligen, zerstören wir letztlich die Grundlagen unserer Gesellschaft. Das ist die beunruhigende Lehre aus dem Fall Petraeus.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch