Aus der Komfortzone zum Königstitel
Erst im Herbst seiner Karriere hat Christian Stucki erfahren, wie gut er sein kann. Seit gestern ist der 34-jährige Berner Schwingerkönig.

Ma foi, tant pis. Tja, dann eben nicht. Verlief ein Schwingfest für Christian Stucki nicht nach Wunsch, sagte er häufig: «Ma foi, tant pis.» Die Worte passten zu Stucki, zu seinem Charakter, zu seinen Auftritten im Sägemehl. Der 198 Zentimeter grosse und gut 140 Kilogramm schwere Seeländer ist eine «Gmüetsmoore». Im Sägemehl stand ihm der Wesenszug des Genügsamen während Jahren im Weg. Nicht immer strebte er mit letzter Konsequenz den Sieg an. In der Beurteilung der Leistungen schwang häufig ein Hauch von Gleichgültigkeit mit. Ma foi, tant pis.
Seit drei Jahren verwendet er die Formulierung kaum noch. Sie passt nicht mehr zum Schwinger Stucki. Sie passte nicht zu seinem Vorhaben, beim siebten «Eidgenössischen» doch noch Schwingerkönig zu werden.
Am Sonntagmittag scheint die Krone für Stucki ausser Reichweite, der Berner nach gestellten Kämpfen gegen Joel Wicki und Armon Orlik aus der Entscheidung gefallen. Ausgerechnet ein Innerschweizer ebnet ihm den Weg in den Schlussgang: Sven Schurtenberger geht gegen Orlik kein Risiko ein, der Gang endet ohne Resultat, weshalb Stucki nach sieben Gängen an die zweite Stelle rückt und somit den Führenden Wicki im Schlussgang herausfordern darf. Im vielleicht wichtigsten Kampf seiner Karriere wuchtet Stucki den starken Kontrahenten nach 42 Sekunden ins Sägemehl, macht sich mit 34 Jahren zum ältesten Schwingerkönig in der Geschichte. Nach dem Triumph fehlen dem Berner die Worte; ausgerechnet ihm, der sonst nie um einen Spruch verlegen ist. Später findet er sie: «Dieser Erfolg ist eine grosse Genugtuung für den harten Einsatz der letzten Jahre.»
Grösse und viel Gespür
Mit Stucki steigt wider Erwarten keiner aus der jungen Generation auf den Thron; keiner der im Vorfeld auch als Kronprinzen angepriesenen Schwinger. Die Rolle des Prinzen war für Stucki nie vorgesehen – weder im Sport noch im Schultheater. Mit 10 Jahren war er 170 Zentimeter gross, hatte Schuhgrösse 44. Es gab Sprüche der Mitschüler, doch der liebenswerte Bub ging nie auf Konfrontation. Nur einmal lief ihm «der Kessel über», wie Stucki einst erzählt hat. «Aber es war keine Fadengerade, eher ein ‹Chlapf›.» Er bereute den Schlag, wurde nie mehr handgreiflich. Nicht ausserhalb des Sägemehls.
«Früher ging er zu leger in den Kampf. Das hat sich extrem geändert.»
Als Jungschwinger nutzte Stucki seine körperliche Überlegenheit: Er hob die Gegner an und schmetterte sie zu Boden. Ehe die Schwingkarriere bei den Aktiven richtig begonnen hatte, drohte sie vorbei zu sein. Mit 20 Jahren zog sich Stucki am linken Bein eine Infektion zu. Zeitweise drohte die Amputation. «Der Nuklearmediziner spritzte etwas Radioaktives, um herauszufinden, ob der Knochen angegriffen war.» Stucki hatte Glück, einzig eine Narbe ist geblieben. «Mister Schweiz» werde er nicht mehr, pflegt Stucki dazu zu sagen. Stattdessen ist er nun Schwingerkönig – auch nicht schlecht.

Noch immer profitiert der Seeländer von seiner Masse, seiner Grösse. Nur: Gross und schwer ist mancher Schwinger, so erfolgreich wie Stucki kaum einer. Der Berner Unspunnensieger Niklaus Gasser sagt: «Schwingen braucht viel Gefühl. Im Zweikampf musst du spüren, was vom Gegner kommt. Und Stucki hat ein abnormales ‹Gspüri›.»
Ein abnormales Gespür und ideale körperliche Voraussetzungen machen noch keinen König. Stuckis Weg zur Krone war nicht frei von Rückschlägen. Er wurde an Eidgenössischen Schwingfesten Zweiter, Dritter, Vierter. 2013 stand er im Schlussgang. Zum Titel reichte es nie. Ma foi, tant pis. Abhaken und weiter gehts. Nur: Nach dem siebten Rang beim «Eidgenössischen» 2016 in Estavayer wurde Stucki bewusst, dass es so nicht weitergehen kann. Sein Manager Rolf Huser sagt: «Chrigu musste raus aus der Komfortzone. Aber es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit aus seinem Umfeld, damit er auch wirklich bereit war, etwas zu ändern.» Eine Änderung betraf den Athletiktrainer. Stucki wechselte ins Team von Tommy Herzog. Der frühere Bob-Anschieber stärkte Stuckis Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, führte ihm vor Augen, was alles möglich ist. Seither ist der Berner aggressiver, geht mehr Risiko ein. «Früher ging er zu leger in den Kampf. Das hat sich extrem geändert», sagt Vater Willi Stucki.
Die Verletzung als Vorteil
2017 reüssierte Stucki am Unspunnenfest. Durch den Erfolg sah er sich darin bestätigt, die richtigen Anpassungen vorgenommen zu haben. Im Hinblick auf Zug zog der Seeländer sein Programm konsequent durch: punkto Krafteinheiten, punkto Physiotherapie, punkto Ernährung. Die Planung drohte zur Makulatur zu werden, als sich Stucki im Mai am «Emmentalischen» einen Teilabriss des Innenbands im linken Knie zuzog. Er liess sich nicht vom Weg abbringen – im Gegenteil. «Chrigu wusste, dass die Pause ein Vorteil sein kann, er bei guter Genesung Ende August noch frisch sein wird», sagt Trainingspartner Florian Gnägi. «Und er wusste: Zug wird seine letzte Chance sein. Entsprechend hat er nochmals härter trainiert.» Vater Willi sagt, er habe seinen Sohn nie so konzentriert erlebt wie in den letzten Wochen. «Chrigu hat immer gesagt: ‹Der Königstitel fehlt mir noch, den will ich unbedingt.› Dieser Erfolg ist das Sahnehäubchen auf seine Karriere.»
Damit zählt der Hüne nun zu den ganz Grossen im Schwingsport. Er hat als erst zweiter Athlet den Schwinger-Grand-Slam komplettiert: Kilchberg-Sieg (2008), Unspunnensieg (2017), Königstitel (2019). Die Karriere möchte Stucki bis zum «Eidgenössischen» 2022 in Pratteln fortsetzen. «Freude und Ehrgeiz sind weiterhin gross.» Im Unterschied zu einigen Vorgängern wird der Königstitel das Leben des zweifachen Familienvaters nicht wesentlich verändern. Wie hat Stucki doch einst gesagt: «Ich steche aus der Masse heraus.» Seit Sonntag hat er die Gewissheit: Das wird so bleiben.
Video: Alle Gänge von Stucki
Von Reichmuth über Schneider bis Wicki: So schwang sich Christian Stucki zum Schwingerkönig. (Video: SRF)
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