Aufreibendes «Abefahre»
Ein Thema, das jeden betrifft, mit Ernst und pointendicht auf den Punkt gebracht: Regisseurin Livia Anne Richard zeigt auf dem Gurten seit Mittwoch «Abefahre!». Sehenswert!

Da kommt sie an, die ungleiche Seilschaft, hoch auf dem Berg und nimmt sich die Augenbinden ab. Vorn steht die Bretterbühne, hinten ein Tipi. Willkommen im Anti-Burn-out-Camp. Bitte Handy jetzt abgeben.
«E sone Schissdräck han i no nie erläbt», sagt der ältere Herr, der sich vor lauter Widerwillen fast aus dem Bühnenbild (Fredi Stettler) verkrümelt, noch bevor es richtig losgeht. Er stellt sich wenig später als Verkaufsleiter René Greper (Theo Schmid) vor.
Seine Frau habe ihn angemeldet, sie drohe ihm mit der Scheidung, falls er sich nicht therapieren lasse. Dass er von alldem nichts hält, bekommen die anderen zu spüren. Er boykottiert das Fasten, das zum Stressabbau verhelfen soll, kritisiert die Kursleiter (Oliver Stein und Marianne Tschirren) und meckert in einem fort, dass es eine Freude ist.
Andere Kursteilnehmer sind weit motivierter. Die fleissige HR-Fachfrau Helen Kunz (Hanny Gerber) etwa oder die Gemeindepräsidentin Renate Brunner (Nicole D. Käser) geben beim Lachyoga, bei den Rollenspielen und bei den Gesprächsrunden Vollgas. Sie alle kämpfen mit Burn-out-Symptomen. Darf man darüber lachen?
Geschundene Seelen
So sicher: «Abefahre! – Stressfrei in 5 Tagen» heisst das Motto des Kurses – und das neue Stück von Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard, das auf der Freilichtbühne auf dem Gurten Premiere gefeiert hat. Was stellen Therapeuten mit den geschundenen Seelen der Arbeitswelt an – und wie soll es möglich sein, Menschen, denen nach langjähriger Überforderung die Puste ausgeht, in einer Woche wieder fit für den Job zu machen?
Das Angebot an Revitalisierungskursen und Selbstfindungsseminaren ist mittlerweile gross. Livia Anne Richard hat alles getestet, was ihr unterkam, und daraus eine Komödie gezimmert, die das florierende Anti-Burn-out-Business hinterfragt.
Natürlich läuft die Seminarwoche nicht nach Plan, so viel ist vorhersehbar. Es gibt Streit, Verrat, Abgründe, Hoffnung und Liebe. Allerlei Schattierungen des Lebens treffen sich zwischen Tipi und Lachyogakreis. Gut, womöglich packt Livia Anne Richard gar viel in ihr Stück. Nach und nach ploppen Themen auf, die über den Kern der Sache hinausgehen.
Doch so machen die Charaktere, die Richard zunächst wie Prototypen auf die Bühne stellt, alle auf ihre Art einen Wandel durch. Dem zunächst souveränen Kursleiter entgleitet nach und nach der Faden, die zunächst kontrollierte PR-Fachfrau tickt völlig aus, einer nach dem anderen zeigt sein wahres Gesicht. Eine Tragödie nach der anderen spielt sich da ab. Dennoch gibt es während der gut 90 Minuten sehr viel zu lachen.
Monroe will Sex
Einige Pointen sind meisterlich gesetzt. Etwa, als Störenfried René Greper im Zuge eines Rollenspiels (einer sogenannten systemischen Strukturaufstellung) widerwillig in die Rolle von Marilyn Monroe schlüpft und ihr den Florian-Ast-Satz «I wott Sex vom Morge bis am Abe» in den Mund legt. Das kommt überraschend.
Theo Schmid scheint sich in seiner Rolle zu Hause zu fühlen wie der Mückenschwarm am schwülen Sommernachtshimmel. Auch Oliver Stein als Kursleiter und Corinne Thalmann als alleinerziehnde Mutter Martina ragen heraus. Das bestens unterhaltene Publikum dankt die starke Ensembleleistung mit Zwischenapplausen.
Nachdem Livia Anne Richard vor zwei Jahren mit mässigem Erfolg «Die Nashörner» von Eugène Ionesco auf den Gurten gebracht hat, setzt sie bei «Abefahre!» wieder auf einen eigenen Stoff. Dabei spielt sie ihre Stärke aus: Mundarttheater, das leichtfüssig ein schwieriges, aber relevantes Thema transportiert – und es trotz vielen Lachern ernst nimmt.
«Abefahre»: Gurten, Wabern, bis 30. 8. Weitere Infos unter: www.theatergurten.ch
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