An dieser Fichte richten sich die Schweden auf
Andreas Granqvist ist der Anti-Zlatan, den alle Schweden lieben.
Gott ist gnädig gestimmt in diesen Tagen. Eben noch hat er auf seine Hinterlassenschaft geblickt und verächtlich festgestellt, «dass ich es offensichtlich besser kann als sie alle». Aber nun meldet er aus Kalifornien: «Ich habe die Welt übernommen, jetzt übernimmt Schweden die Welt.» Bloss, wen interessiert in diesen Tagen, was Zlatan Ibrahimovic zu sagen hat?
In Schweden jedenfalls nicht mehr viele. Dort verkaufen sich gerade T-Shirts ganz gut, auf die ein Duftbäumchen gedruckt ist mit der Aufschrift «Kapten Granqvist». Vermutlich wäre Ibrahimovic mässig begeistert, wenn er mit einem Billigprodukt für die Geruchskorrektur von Auto-Innenräumen in Verbindung gebracht würde.
Aber genau darum lieben die Schweden ja Andreas Granqvist. Er ist das Gegenteil des exzentrischen Stürmers, der über ein Jahrzehnt lang den schwedischen Fussball geprägt hat. Er ist Innenverteidiger, gilt als bescheiden, verbindend, er stellt die Mannschaft über das Ego. Er ist der Anti-Zlatan. Und der Beweis, dass sich das Nationalteam schneller von seinem Star emanzipiert hat, als das nach dessen Rücktritt 2016 vorstellbar schien.
«Granen» nennen sie ihn in Schweden, Fichte. An dieser Fichte hat sich Schwedens Nationalteam aufgerichtet. Trotzdem: Nachdem Granqvist in der WM-Barrage gegen Italien zweimal auf der Linie gerettet hatte, hörte man ihn bloss sagen, es sei sein Glück gewesen, dass er angeschossen wurde. Und: «Glückwunsch an das Team, das sich diese WM verdient hat.»
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Symbol für ein Schweden, das es vielleicht nicht mehr gibt
Mit diesem Understatement trifft Granqvist einen Nerv. «Er steht für ein Schweden, in dem das Kollektiv, harte Arbeit und der Wille, alle zu integrieren, hochgehalten werden. Er ist so, wie viele Schweden ihr Land noch immer gerne sehen wollen», sagt Michael Wagner, der seit 20 Jahren das Nationalteam für «Aftonbladet» begleitet. Nur könnten in den kommenden Wahlen die Rechtsaussen der Schwedendemokraten die grossen Sieger werden. «Granqvist verkörpert in dem Sinn auch ein Schweden, das es so vielleicht gar nicht mehr gibt», sagt Wagner.
Granqvists Popularität in Schweden hat seit 2017 derartige Ausmasse angenommen, dass sich auch Intellektuelle mit dem Phänomen auseinandersetzen. Für Philosophieprofessor Tore Brännberg steht fest: Ohne Ibrahimovic wäre die heutige Figur Granqvist gar nicht möglich. «Ibrahimovic hat die Rolle des Outlaws gespielt, des Superhelden, der niemanden braucht ausser sich selbst. Ein wenig wie Tarzan, Superman oder James Bond.» Und als die Schweden dieses Einzelgängers müde wurden, da kam Granqvist: «Ein total gegensätzlicher Charakter, mannschaftsdienlich, bodenständig – ganz einfach ein stinknormaler schwedischer Kerl, der dein Nachbar sein könnte.»
Wobei das natürlich leicht übertrieben ist. Granqvist mag kein Jahrhunderttalent sein. Aber er galt in Schweden vor der Euro 2012 als neuer Typus von Innenverteidiger. Keiner, der nur den Raum abdeckt und nach dem Ballgewinn die Kugel achtzig Meter nach vorne schwartet. Granqvist spielt gern den kurzen Pass, er mag es sogar, von Zeit zu Zeit zu dribbeln.
Trotzdem musste er 31 Jahre alt werden, ehe er im Nationalteam eine tragende Rolle erhielt. Nach Ibrahimovics Abgang ernannte ihn der neue Nationaltrainer Janne Andersson zum Captain. Seither läuft der Aufstieg zum Volkshelden. 2017 wurde er zu Schwedens Fussballer des Jahres gekürt. Als Erster seit 2006, der nicht Zlatan Ibrahimovic heisst.
Sowieso ist Granqvist eher ein Spätzünder, sein Anlauf als 22-Jähriger in England scheiterte, er spielte danach für Groningen (NED) und Genoa. Erst Russland brachte ihm den Durchbruch. Seit fünf Jahren ist er bei Krasnodar unter Vertrag. Nach nur einer Saison wurde er auch dort zum Captain.
Nach der WM spielt er noch in der zweiten Liga Schwedens
Bodenständig heisst in seinem Fall auch, dass er bei einem Lohn von 3,5 Millionen steuerfreien Euros das Rechnen nicht vergisst. Weil sein Gehalt in Euro festgeschrieben ist, aber in Rubel ausbezahlt wird, verlor er einmal an einem Tag 10 Prozent seiner Einkünfte durch eine Kursschwankung. Seither hat er jemanden, der am Tag der Lohnzahlung zur Bank geht, alle Rubel abhebt, in Euro wechselt – und dann wieder einzahlt. Anders scheint es im russischen Bankensystem nicht machbar zu sein.
Nach dieser WM nimmt Granqvist Abschied von Russland. Sergei Galizki, Besitzer des FK Krasnodar und Gründer des russischen Aldi, hat ihm fünf Millionen Euro Jahresgehalt geboten. Aber Granqvists Frau Sofie wollte zurück in die Heimat. So steht er ab dem 15. Juli in der zweiten schwedischen Liga bei seinem Stammclub Helsingborg unter Vertrag.
Eigentlich erwartete ihn seine Familie ja jetzt schon zu Hause. Am Dienstag, wenn der Achtelfinal gegen die Schweiz ansteht, soll sein zweites Kind geboren werden. Andreas Granqvist hat selbst mit zwei verwandelten Elfmetern dazu beigetragen, dass er die Geburt wohl verpassen wird. Sofie hat ihm die Erlaubnis erteilt. Sie sagt: «Wie könnte ich ihm etwas verbieten, wovon er als kleiner Junge geträumt hat?» Der kleine Junge ist inzwischen zwar eine grosse Fichte. Aber sein Traum lebt.
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