Russe und Ukrainer bei AtalantaAls sie sich erstmals nach Kriegsbeginn sehen, umarmen sie sich
Der Ukrainer Ruslan Malinowskyj und der Russe Alexei Mirantschuk spielen bei Atalanta Bergamo. Ihrer Freundschaft vermag der Krieg nicht zu schaden.

Ruslan Malinowskyj und Alexei Mirantschuk sind sich eigentlich gar nicht so fremd. Beide spielen Fussball bei Atalanta Bergamo, beide im offensiven Mittelfeld. Der eine ist 28, der andere 26. Der eine ist 45-facher Nationalspieler, der andere 41-facher. Der eine ist schon etwas länger in Italien und half dem anderen, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, weil er als Einziger des Teams dessen Muttersprache beherrscht.
Dann hat Russland die Ukraine angegriffen, sind Mirantschuks Landsmänner in Malinowskyjs Heimat einmarschiert. Das könnte zwei junge Männer zu Feinden machen. Dies aber ist eine Geschichte der Freundschaft.
Gerade in den grossen europäischen Ligen ist es selten zu sehen, dass Nationalspieler der beiden Länder in denselben Teams spielen. Bei Atalanta, wo auch der Schweizer Remo Freuler sein Geld verdient, gibt es diese Konstellation seit Mirantschuks Transfer aus Moskau vor bald zwei Jahren. 24-mal standen er und Malinowskyj seither zusammen auf dem Platz, die letzte Saison beendeten sie mit Atalanta auf Rang 3 der Serie A.
Für den Krieg schämt er sich vor seinem Freund
Matteo Pessina, ein Italiener aus demselben Team, versuchte kürzlich, in Worte zu fassen, was der Krieg mit ihm mache. Er schrieb auf Instagram: «Es mag banal sein, einen Fussballer ‹Nein zum Krieg› sagen zu hören. Es mag banal sein, ihn sagen zu hören, dass Krieg immer falsch ist. Aber wenn es wirklich so banal wäre, wären wir nicht hier, im Jahr 2022, und würden es alle zusammen wiederholen.»
Und dann bezog er sich auf die Situation mit seinen Mitspielern. «In unserer Kabine haben die beiden am Krieg beteiligten Völker die Gesichter von Ruslan und Alexei», schrieb er. «Mali» sei ein introvertierter und hilfsbereiter Junge mit einem starken Charakter, «Mira» ein einfacher Junge, ein schüchterner, aber einer der nettesten, die er kenne, so Pessina. Dazu stellte er zwei Bilder, auf dem einen ist er beim Handschlag mit Malinowskyj zu sehen, auf dem anderen umarmt er Mirantschuk.
Malinowskyj macht in diesen Tagen oft auf den Krieg aufmerksam. Erst kürzlich postete er ein Video mit Kriegsbildern und Botschaften von ihm oder Landsmännern wie Andrij Jarmolenko (West Ham United) und Oleksandr Sintschenko (Manchester City). Seine Frau sammelt Geld über eine von ihr gegründete Stiftung. Mirantschuk seinerseits war noch nie einer, der viel von sich preisgab, auf Instagram schweigt er seit Ende Januar. In italienischen Medien heisst es, der Krieg setze ihm zu, er schäme sich, vor allem vor seinem Freund Malinowskyj.
«Diese Freundschaft ist der Spiegel der Realität»
Am Tag, an dem Russland in die Ukraine einmarschierte, es war der 24. Februar, spielte Atalanta bei Olympiakos Piräus in Griechenland um die Teilnahme am Europa-League-Achtelfinal. Die Italiener gewannen 3:0, Malinowskyj spielte auf eigenen Wunsch mit, schoss zwei Tore und zeigte beim Jubel ein T-Shirt mit der Aufschrift «No War in Ukraine». Mirantschuk sah das höchstens auf Fernsehbildern, er war zu Hause, weil er verletzt war.
Am Tag darauf kehrten die siegreichen Bergamasken zurück, und erstmals seit Kriegsbeginn standen sich Malinowskyj und Mirantschuk gegenüber, im Trainingszentrum Zingonia. Pessina schrieb auf Instagram: «Sie umarmten sich. Und wir haben sie umarmt und werden dies auch in diesem schwierigen Moment als eine grosse Familie tun.» Umberto Marino, Geschäftsführer von Atalanta, sagte: «Das ist eine ehrliche Freundschaft zweier junger Männer, die zwei sehr ähnliche Bevölkerungen repräsentieren. Diese Freundschaft ist der Spiegel der Realität und ein Beispiel dafür, wie es sein sollte.»
Am Montag vor einer Woche spielte Atalanta zu Hause im Gewiss Stadium gegen Sampdoria Genua. Diesmal konnte Malinowskyj wegen einer Verletzung nicht mittun, das Portal Primabergamo.it schrieb, es habe sich dennoch angefühlt, als sei er auf dem Platz gestanden. «Wegen der ukrainischen Fahnen, die auf den Terrassen geschwenkt wurden, der leidenschaftlichen Chöre, der Schilder, die von den Bergamasker Bürgern hochgehalten wurden.»
Atalanta gewann das Spiel gegen Sampdoria übrigens 4:0. Das letzte Tor schoss Mirantschuk. Nach Jubeln war ihm nicht. Aus Respekt gegenüber seinem ukrainischen Freund.

Marcel Rohner startete 2017 als Praktikant in der Tamedia Sportredaktion. Seit Sommer 2019 begleitet er den Schweizer und Zürcher Fussball, spezifisch den Grasshopper Club Zürich. Im Winter berichtet er auch über Skirennen.
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