Die Berner Kulturwoche«Die 50er-Jahre waren lesbischer, als wir heute glauben»
Die 13. Ausgabe des Sonohr Radio & Podcast Festival wird mit einer intimen Audiocollage eröffnet, in dem drei Frauen liebende Frauen über 80 eine Stimme erhalten.

Letzte Nacht habe sie nicht schlafen können und deshalb eine Liste all ihrer Liebhaberinnen verfasst, sagt Margrit. «Ich bin etwa auf ein Dutzend gekommen.» Das Komische sei: Ganz viele ihrer Freundinnen hätten Doris geheissen. Eine Doris sei ihre grösste Liebe gewesen, sie erinnert sich, wie ihr Vater – sie lebte damals noch zu Hause – einen Brief dieser Doris geöffnet habe. Als Begründung habe er nur gemeint, er wolle diesen Umgang seiner Tochter nicht. «Ich habe ihm das bis zu seinem Tod nicht verziehen.»
Die Ostschweizerin, lange als SP-Politikerin im St. Galler Kantonsrat, ist eine von drei über 80-jährigen Frauen, die im Hörstück «Eigentlich seit immer» mit der Regisseurin Ruth Huber und der Sounddesignerin Christina Baron zurückschauen auf ihr Leben als Frauen liebende Frauen. Das mit dem Förderpreis Katalysator der Stiftung Radio Basel ausgezeichnete Hörstück eröffnet am Freitagabend (19.30 Uhr, Kino Rex) das 13. Sonohr-Festival.
Auf einer Zeitreise
Um überhaupt an diese Geschichten zu kommen, kontaktierte die Regisseurin Ruth Huber eine der wenigen Expertinnen auf dem Gebiet der Lesbengeschichte der Schweiz: Corinne Rufli. Die Historikerin forscht am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern. Auf der Basis ihrer Oral-History-Forschung, bei der sie zahlreiche Gespräche mit Frauen liebenden Frauen im Alter geführt hatte, entstand 2015 ihr Buch «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen».
«Das Buch von Corinne begleitet mich schon lange. Es lag auf meinem Stapel mit Themen, mit denen ich gern einmal arbeiten wollte», erzählt Ruth Huber. Mit ihrem Anliegen stiess sie bei Corinne Rufli auf offene Ohren. «Es schien fast so, als ob sie auf jemanden wie mich gewartet hätte, die diesen Tondokumenten eine andere Form der Öffentlichkeit verschafft.»

Ruth Huber hat mit dem Audiomaterial gleichzeitig ein Hörstück und eine Theaterperformance entwickelt: «Wir wählten aus all den Geschichten Frauen mit verschiedenen Lebensdramaturgien und einem unterschiedlichen Grad an politischem Aktivismus.» Im Hörstück ist die Musik von Fatima Dunn bedeutsam, es sind subtile Klangbilder, die einen auf die Zeitreise mitnehmen und den Frauen und ihren Stimmen Raum geben.
Vor lauter Glück wollte Ruth durch den Bahnhof Bern rufen: «Ich bin eine Lesbe!»
Während die Ostschweizerin Margrit nie eine Beziehung mit einem Mann einging, war die Bernerin Ruth 35 Jahre mit einem Mann verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie sei nicht unglücklich gewesen, habe aber gespürt, dass etwas fehle. Ruth hat spät, nach dem Tod ihres Mannes, mit über 60, ihre grosse Liebe zu einer Frau erlebt. Vor lauter Glück wollte sie damals durch den Bahnhof Bern rufen: «Ich bin eine Lesbe!» Obwohl sie den Ausdruck eigentlich nicht mag und «Frauen liebende Frau» bevorzugt.
Christine, der Pfarrerstochter aus Winterthur, war schon früh klar, dass sie keinen «Versorger» wollte. Bei einem Auslandaufenthalt wurde sie nach einer flüchtigen Affäre schwanger, «da war ich doppelt randständig, als alleinerziehende Mutter und Lesbe». Ihr Kind brachte sie in einem Haus für «gefallene Mädchen» zur Welt und verliebte sich während der Geburt in die Hebamme.
Beitrag zur Sichtbarkeit
Geschichten von lesbischen Frauen seien immer noch eine «Leerstelle» in den meisten Kunstsparten, findet Ruth Huber. Vor allem die Perspektive der älteren Generationen fehle bis anhin. «Diese Frauen sind in unserer Gesellschaft kaum sichtbar und hörbar, und sie fehlen deshalb der jüngeren Generation als Vorbilder.»
Frauen liebende Frauen habe es schon immer gegeben, so die Regisseurin, «nur hinkt die Forschung in der Schweiz leider stark hinterher». Darum sei die Arbeit von Historikerin Corinne Rufli so wertvoll, da dies eine neue Perspektive auf die Geschichte der Schweiz eröffne und zeige, dass das Begehren komplexer sei, als wir es uns gern vorstellen würden. «Die 1950er-Jahre waren lesbischer, als wir heute glauben», sagt Ruth Huber.
Bereits in den 1930er-Jahren gab es mit den Damenclub Amicitia einen Zusammenschluss von Frauen liebenden Frauen in der Schweiz. In der Zeit des Nationalsozialismus versteckten oder verheirateten sich viele lesbische Frauen in der Schweiz.
Erst im Zuge der Frauenbewegung der 1970er-Jahre formierten sich feministische Lesbengruppen, die auf der Strasse für ihre Forderungen eintraten. Damit schufen sie einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarkeit. Während feministische Lesben sich einen Platz an der Öffentlichkeit erkämpft hatten, werden viele andere Frauen liebende Frauen bis heute als heterosexuell gesehen – gerade wenn sie in einer Ehe mit einem Mann leben, wenn sie allein leben oder wenn sie nicht offen über ihr Begehren sprechen können. Die Audiocollage «Eigentlich seit immer» gibt auch diesen Frauen eine Stimme.

Beim 13. Sonohr-Festival stehen Frauen liebende Frauen auch in zwei Wettbewerbsbeiträgen aus der Westschweiz im Zentrum (Sonntag, 17.30 Uhr). Im sechsteiligen Podcast «Legaythé» von Suzanne Forsell und Samy Dib berichten sechs ältere LGBTQ+-Menschen humorvoll und offen aus ihrem Leben. In «Radio Canicule» wird an die «lesbische Viertelstunde» erinnert, die zwischen 1990 und 1992 vom feministischen Genfer Sender Pleine Lune ausgestrahlt wurde.
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