Andacht und Wut in TokioAbe-Andacht provoziert Demonstration
Bei der Trauerfeier für Japans ermordeten Ex-Premier erinnern Weggefährten an seine Errungenschaften. Doch es gibt auch Proteste – und diese haben einen Grund.

Der Tag des letzten Geleits für Japans Rekord-Premierminister Shinzo Abe ist warm und für Tokioter Verhältnisse ziemlich laut. Nicht in der Kampfsporthalle Nippon Budokan natürlich, in der die Staatstrauerfeier für Abe mit 4000 Anwesenden stattfindet. Dort herrscht die besinnliche Ruhe, die dem Anlass angemessen ist. Der Altar, auf dem Abes Urne steht, ist dem Berg Fuji nachempfunden. Auf Videoschirmen erscheinen Szenen aus dem Leben des früheren Regierungschefs, der am 8. Juli bei einer Wahlkampfveranstaltung von einem Attentäter in Nara erschossen wurde.
Ein paar Kilometer südlich auf der anderen Seite des Kaiserpalastes sind rund um das Parlament im Stadtteil Nagatacho Tausende Unzufriedene zusammengekommen, hauptsächlich ältere Leute. Die Menschen halten Schilder hoch, auf denen steht: «Widerstand gegen die Staatstrauerfeier». Aus Megafonen dröhnt eine zornige Rede gegen Premier Fumio Kishida: «Die Kishida-Regierung hat den Willen unseres Volkes völlig unterschätzt. Deshalb ist ihre Unterstützungsquote jetzt im Keller. Lasst sie uns weiter senken und das Kabinett Kishida stürzen!»
Auch Abe gehörte zu Japans Macht-Elite
Andacht und Wut. Die Stimmung in Tokio war seltsam am Tag, an dem Japans Politik-Elite ihre prägendste Figur der jüngeren Vergangenheit verabschiedete. Aber sie passte auch ins Bild. Denn durch die Gesellschaft des Inselstaats zieht sich eine tiefe Kluft zwischen Regierenden und Regierten. Erbpolitiker und Wahlseilschaften haben bei vielen hier über Jahrzehnte den Eindruck hinterlassen, dass Japans Demokratie von eigennützigen Machtmenschen beherrscht wird. Shinzo Abe, selbst Spross einer prominenten Politikerfamilie, gehörte dazu. Und das tut er selbst im Tod.
Abe war kein unumstrittener Kämpfer für die Menschen im Land. Er schob kaum nachhaltige Reformen an. Sozialpolitik blieb bei ihm unterbelichtet. Sein Rechtspopulismus polarisierte. Und die Skandale seiner Amtszeit zeigten, dass sich die Regierung vor allem für sich selbst interessierte.
Deshalb hat es seit Juli so viele Proteste gegen die Staatstrauerfeier gegeben. Bis Dienstag hatte es in Japans Nachkriegsgeschichte erst eine solche Feier für einen Premier gegeben: 1967 für Shigeru Yoshida, der die Nation durch den Wiederaufbau nach 1945 geleitet hatte. Jene für Abe beschloss Kishidas Kabinett, ohne das Parlament zu fragen – bei Kosten von 1,6 Milliarden Yen Steuergeld, umgerechnet 11 Millionen Franken. Die Widersacher finden einfach nicht, dass Shinzo Abe nach seinem Wirken eine derart teure, exklusive, von oben verordnete Ehrenveranstaltung verdient hat.
Premier Kishida in der Krise
Der Streit hat Premierminister Kishida in die Krise gestürzt. Bis zum Attentat auf Abe war er im Umfragehoch. Sein Bekenntnis zum Westen und gegen den Ukraine-Angreifer Russland kam gut an. Die Oberhauswahl zwei Tage nach Abes Tod wurde ein Triumph für dessen Partei LDP. Aber jetzt purzeln die Werte. Kishidas jüngste Kabinettsumbildung war zu halbherzig, und die Staatstrauerfeier legen ihm viele als Willkürakt aus.
Anfang September sagte Kishida, er habe sich wegen der Errungenschaften Abes dafür entschieden. Zuletzt hat er sie als wichtiges diplomatisches Ereignis verkauft; immerhin sind 700 Auslandsgäste gekommen, darunter die Premierminister Indiens und Australiens, Narendra Modi und Anthony Albanese. Knapp vierzig Gespräche will Kishida bis zum Mittwoch geführt haben. Am Montag hat Kishida mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris zu Abend gegessen.
Aber gut möglich, dass Kishida mit der Trauerfeier auch das rechte Lager in der LDP auf seine Seite bringen wollte. Dieses ringt ohne ihr Idol Shinzo Abe immer noch um Orientierung. Wie auch immer: Der Preis ist hoch. Dabei hatte Fumio Kishida bei seiner Wahl im Herbst 2021 angekündigt, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zuschütten zu wollen. Dieses Versprechen hat er gebrochen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.