«300'000 Personen verdienen weniger als 4000 Franken»
Gesprächsmarathon im Bundeshaus: Über 70 Votanten wollen sich zur Mindestlohninitiative äussern. Bürgerliche finden 400o Franken zu hoch, Linke monieren, der Staat greife schon heute ein – über die Sozialhilfe.

Der Nationalrat hat heute die Mindestlohninitiative beraten, über die das Volk im kommenden Jahr abstimmen wird. Die Diskussion drehte sich um die Frage, was ein gerechter Lohn ist – und ob es Aufgabe des Staates sein könnte, eine Untergrenze festzulegen.
Entscheiden wird der Nationalrat erst morgen. Dass er die Initiative zur Ablehnung empfiehlt, steht ausser Zweifel: Die bürgerlichen Parteien stellen sich gegen das Volksbegehren, nur SP und Grüne plädieren für ein Ja.
Mit der Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne» verlangt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn. Dieser soll bei 22 Franken pro Stunde liegen, was 4000 Franken im Monat entspricht. Der Betrag soll regelmässig der Teuerung angepasst werden.
Von der Arbeit leben können
Heute verdienten weit über 300'000 Personen für eine Vollzeitstelle weniger als 4000 Franken, sagte Gewerkschaftsvertreter Corrado Pardini (SP, BE). Die Sozialpartnerschaft greife nur zur Hälfte, viele Arbeitnehmende seien keinem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt. Die Initiative würde dafür sorgen, dass alle vom Lohn ihrer Arbeit in Würde leben könnten.
Pardini berief sich auf die Bundesverfassung, gemäss der sich die Stärke des Volkes am Wohle der Schwachen bemisst. «Wenn das Wohl der Schwachen tatsächlich unser Ziel ist, müssen wir eine Lohnuntergrenze festlegen.»
Keine staatlichen Eingriffe
Die Gegner der Initiative betrachten dagegen einen staatlichen Eingriff als Fehler. Der Arbeitsmarkt funktioniere, lautete der Tenor im Rat. «Don't fix it, it's not broken», sagte Ruedi Noser (FDP, ZH). «Im Normalfall» sollte jemand zwar von seinem Lohn leben können. Die Wirtschaft könne aber nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen. «Deshalb leben wir in einer sozialen Marktwirtschaft», stellte Noser fest.
Wenn jemand die entsprechende Wertschöpfung nicht erbringe, gebe es keinen Grund dafür, dass er 4000 Franken verdienen sollte. Als Beispiele nannte Noser ehemalige Alkoholiker oder Migranten ohne Sprachkenntnisse. Mit einem Mindestlohn würde ihnen die Möglichkeit genommen, ins Berufsleben einzusteigen oder wieder einzusteigen.
Staat subventioniert Tieflöhne
Die Befürworter der Initiative entgegneten, der Staat greife schon heute ein. Er subventioniere nämlich über die Sozialhilfe jene Löhne, die nicht zum Leben reichten. Dafür aufkommen müssten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Dies sei der ordnungspolitische Skandal, nicht ein gesetzlicher Mindestlohn, sagte Balthasar Glättli (Grüne, ZH). «Setzen Sie nicht auf einen Staat, der am Schluss die Scherben zusammenwischen muss.»
Im Vergleich zum Ausland zu hoch
Zu reden gab auch die Höhe des Mindestlohnes. Die Gegner der Initiative wiesen auf regionale Unterschiede hin: Ein Lohn von 4000 Franken sei vielleicht in Zürich nötig, in ländlichen Regionen genüge weniger.
Im Vergleich zu Mindestlöhnen in anderen Ländern sei ein Mindestlohn von 22 Franken sehr hoch, monierten viele. Erwähnt wurde dabei auch der im Koalitionsvertrag in Deutschland vorgesehene Mindestlohn von 8,50 Euro.
Erntehelfer verdienen die Hälfte
Manche warnten auch vor den Auswirkungen auf bestimmte Branchen. Erntehelfer verdienten heute 40 bis 60 Prozent weniger als die Initiative vorschreiben wolle, sagte Bruno Pezzatti (FDP, ZG), Direktor des Schweizerischen Obstverbandes. Die Branche wäre nicht mehr konkurrenzfähig.
Andere warnten davor, dass die Schweiz mit einem hohen Mindestlohn zu einem Magnet würde. Der Arbeitsmarkt für Ausländer würde noch attraktiver, gab Sylvia Flückiger (SVP, AG) zu bedenken. Die Befürworter der Initiative widersprachen: Für die Einwanderung sei nicht der Lohn, sondern die Zahl der offenen Stellen entscheidend.
Erfolgsmodell nicht gefährden
In die Diskussion wurden auch persönliche Erfahrungen eingebracht. Andrea Caroni (FDP, AR) etwa erzählte, als Teenager habe er bei einem Hilfsjob 12 Franken verdient, nach dem Studium als Anwaltsgehilfe 17.50 pro Stunde. Nun könne man einwenden, solche Jobs würden unter die Ausnahmeklausel der Initiative fallen. Am besten sei es aber, für alle eine Ausnahme zu machen und die Initiative abzulehnen.
Generell setzten die bürgerlichen Politikerinnen und Politiker nach dem Abstimmungserfolg vom Wochenende auf Slogans, die sie bereits gegen die 1:12-Initiative verwendet hatten. Das «Erfolgsmodell Schweiz» dürfe nicht gefährdet werden, hiess es immer wieder. Die Schweiz sei in Europa eine Ausnahmeerscheinung, sagte etwa Hansjörg Hassler (BDP, GR). «Auf Experimente sollten wir unbedingt verzichten.»
Die Diskussion geht morgen weiter. Neben den Fraktionssprechern wollen sich insgesamt 72 Ratsmitglieder zu Wort melden.
SDA/rbi
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