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Grandiose Aussicht ohne grosse Strapazen
Kuhglockengebimmel, herbstliche Wälder und ein tolles Panorama: Das bietet eine rund zweieinhalb stündige Wanderung von Zimmerwald nach Niederscherli.
Vor 100 Jahren trafen sich die Russen Lenin, Sinowjew und Trotzki mit Genossen aus aller Welt in Zimmerwald. Auf Spurensuche im Jubiläumsjahr mit dem Gemeindepräsidenten Fritz Brönnimann.
Väterchen Frost herrscht in Zimmerwald. Ein paar weisse Enten plätschern im ehemaligen Feuerweiher, der mit Wasser aus zwei Brunnen gespeist wird. Von der Entenidylle im Dorfzentrum führt ein Fussgängerstreifen zum Haus mit der Gemeindeverwaltung und der Ersparniskasse Rüeggisberg.
An der Stelle des Gebäudes und des Parkplatzes stand früher die Pension Schenk. Gemeindepräsident Fritz Brönnimann zeigt einen Artikel der «Tagwacht» vom 13. Februar 1971, illustriert mit einem Foto. Der VW-Käfer vor dem Haus gehörte Brönnimanns Vater. «Er war Bauer und Lokalhistoriker», sagt der 62-jährige Gemeindepräsident, der vor seiner Pensionierung Bauingenieur war.
Wenig Spuren der Konferenz
Auslöser für den Artikel in der «Tagwacht» war der Abbruch der Pension Schenk. Das Gebäude hatte internationale Berühmtheit erlangt, weil vom 5. bis 8. September 1915 Lenin und eine Gruppe von Gesinnungsgenossen darin logiert hatten (siehe Kasten). Alle dürften bei Schenks nicht Platz gefunden und sich auch nebenan, in der Pension Beau-Séjour, niedergelassen haben, die immer noch steht.
«Früher war darin ein Laden. Dann wurden Wohnungen eingebaut», sagt Brönnimann. Verköstigt wurden die Revolutionäre aus einer Küche im Haus gegenüber. Auch dieses ist, nachdem es ein Musikmuseum gewesen ist, heute ein Wohnhaus. Im Dorf sind vom prominenten Besuch von 1915 kaum Spuren zu sehen.
Die Geschichte der berühmten Konferenz von Zimmerwald findet in der Gemeindeverwaltung Platz in zwei Bundesordnern. Fritz Brönnimann legt sie auf den Sitzungstisch, öffnet sie, blättert und pickt einige Rosinen aus profanen Plastikmäppchen. Die Kunde, dass sich kommunistische Oberideologen im Dörfchen auf dem Längenberg getroffen hatten, war hinter dem Eisernen Vorhang bekannt: Über Jahre erhielt die Gemeinde Zimmerwald Post aus der DDR, aus Ungarn und aus Russland.
Leningrad grüsst Leningrad
Die Briefe waren oft in kyrillischer Schrift verfasst. «Das liess man meist übersetzen», weiss der Gemeindepräsident und zieht ein paar Briefe und Karten hervor. «Sehr geehrter Herr Direktor des Lenin-Museums», steht da, russisch-kyrillisch, auf vergilbtem Papier, mit Schreibmaschine getippt. Aber man versuchte es auch auf Deutsch. «Sehr geehrter Herr Genosse Direktor.» Eine Postkarte aus Leningrad zeigt Lenins Konterfei. Darunter steht handgeschrieben: «Leningrad grüsst Leningrad.»
Zurückhaltende Gemeinde
Im Gegensatz zu den Reaktionen von auswärts gab sich die Gemeinde selber mehr als zurückhaltend. «In den Protokollen der Gemeinderatssitzungen von 1915 fand ich kein Wort von dieser Konferenz», sagt Fritz Brönnimann. Er weiss aber, dass 1965, zum 50.Jubiläum der Zimmerwald-Konferenz, eine Vortragsreihe stattfand.
Die Referenten gehörten allesamt zum Kreis der kalten Krieger: die Nationalräte Walther Hofer und Peter Sager (SVP) sowie Peter Dürrenmatt von den Liberaldemokraten. Damit hatte es sich damals auch schon mit dem Gedenken. 100 Jahre nach der Konferenz ist dem Parteilosen Fritz Brönnimann klar: «Am 5.September wird es bei uns einen Gedenkanlass geben.» Man habe auch schon von einer Feier geredet. «Aber da sind doch gewisse Vorbehalte vorhanden.» Einige fänden: nichts machen. Andere äusserten Ideen.
Kratzende Militärdecken
Brönnimann ist Projektleiter der Arbeitsgruppe für die Ausstellung «1915 Zimmerwalder Konferenz – Grimm und Lenin in Zimmerwald». Sie soll im Regionalmuseum Schwarzenburg vom 2.Mai bis zum 22.November zu sehen sein. Nebst Dokumenten und Fotos seien allerdings nicht viele Exponate vorhanden, so Brönnimann.
Weil überliefert ist, dass die Revolutionäre unter Wolldecken schliefen, die die Pensionen im Heim Kühlewil ausgeliehen hatten, werden auch Militärdecken gezeigt. «So richtig kratzige eben», erzählt Fritz Brönnimann, lacht und schliesst die Ordner.
Der Sozialdemokrat Robert Grimm (1881–1958) war Redaktor der «Berner Tagwacht» und präsidierte 1915 die Internationalen Sozialistischen Konferenzen, die in Zimmerwald, Kiental und Bern stattfanden. Am 5.September traf sich Grimm mit den Delegierten der sozialistischen Parteien aus Bulgarien, Holland, Italien, Lettland, Norwegen, Polen, Schweden, Rumänien und Russland in Bern.
Ohne offizielles Mandat waren auch Sozialisten aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz erschienen. Unter den Russen waren Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin), Grigori Sinowjew und Lew Dawidowitsch Bronstein (Trotzki).
Mit vier Wagen fuhren die rund 40 Teilnehmer der Konferenz für vier Tage ins Dörfchen Zimmerwald (siehe Haupttexte). Ziel des Treffens war, durch die Wiedererweckung des Klassenkampfes eine umfassende Friedensaktion einzuleiten, befand man sich doch mitten im 1.Weltkrieg. Nach vier Tagen einigten sich die Konferenzteilnehmer auf das Manifest von Zimmerwald.
Dieses erinnerte die «internationale Arbeiterschaft an ihre Pflicht zum unversöhnlichen, proletarischen Klassenkampf» und forderte «einen Frieden auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker».
Die antimilitaristische, revolutionäre sozialistische Bewegung, die sich an dieser Konferenz um Lenin bildete, wurde als «Zimmerwalder Linke» bezeichnet. Damit begann die Spaltung der Arbeiterbewegung in revolutionäre und reformistische Sozialisten beziehungsweise Kommunisten und Sozialdemokraten. lfc
Quellen: Wikipedia. Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz, Ex Libris 1975.
Berner Zeitung
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