100 Jahre Zweisamkeit
Stadtpräsident Alec von Graffenried verbrachte seinen denkwürdigen Dreikönigstag damit, 100-Jährige zu feiern. Zuerst seine ehemalige Lehrerin Erna Känzig. Dann die Zweckehe von Bümpliz mit Bern.

So viel Heiterkeit. So viel Schlagfertigkeit. So viel Gelassenheit, man möchte die ganze Wärme dieses Augenblicks für die nächsten 100 Jahre ins eigene Herz schliessen: «Von aussen sehe ich klein und dünn aus, aber im Innern ist die Freude ganz dick», sagte die Länggässlerin Erna Känzig-Winkler, 100 Jahre alt und von beneidenswerter Präsenz, am Sonntagmittag im Münchenbuchser Restaurant Häberli's.
Die Jubilarin, die ihren runden Geburtstag mit rund drei Dutzend Familienmitgliedern beging, war vorsichtigen Schrittes in die Mitte des kleinen Saales gekommen, als plötzlich Gratulant Alec von Graffenried in der Tür stand.
Der Stadtpräsident, von Erna Känzigs Unbeschwertheit förmlich angesteckt, bog sich zu ihr hinunter und merkte an, Frau Känzig komme ihm «ehrlich gesagt kleiner vor als damals».
Damals, als sie grösser war als von Graffenried, das war vor rund 45 Jahren. Alec besuchte die 3. und 4. Klasse im Hochfeldschulhaus in der Länggasse, wo Frau Känzig Lehrerin war und ihr Mann Schulvorsteher. Geblieben ist von Graffenried die straffe, von einem kräftigen Stimmorgan getragene Pädagogik seines Hauptlehrers Paul Kopp, nebenbei SP-Politiker und später Gründer der Behindertenorganisation Band.
Erna Känzig, die Kopp bei Abwesenheiten oft vertreten habe, sei eine hervorragende Geschichtenerzählerin gewesen, sagt Stadtpräsident von Graffenried. «Ich habe Entspannung gebracht», ergänzt die 100-Jährige voller Frische. Sie lebt nach wie vor in ihrer eigenen Wohnung in der Länggasse und liest jeden Tag die Zeitung.
Die Begegnung mit Erna Känzig wühlt im Stadtpräsidenten auch schmerzhafte Momente seiner eigenen Biografie auf. In der Zeit, als er bei ihr zur Schule ging, starb unerwartet sein Vater, seine damals 40-jährige Mutter stand plötzlich allein mit den Kindern da. Ein sehr trauriges Ereignis, das die ganze Schule bewegt habe, erinnert sich Erna Känzig glasklar.
Das Leben! Es hatte im Hochfeldschulhaus indessen auch frivole Momente bereit. So sei es absolut normal gewesen, dass Schüler von Graffenried von Lehrern für Besorgungen eingespannt worden sei, erinnert sich dieser – etwa, um in der Apotheke Flatulex zu besorgen. Flatulex! Ein Abführmittel!
«Das bleibt jetzt aber unter uns.»
«Das bleibt jetzt aber unter uns», mahnt die frühere Lehrerin den heutigen Stadtpräsidenten. Die Geburtstagsgesellschaft biegt sich vor Lachen. Als Stand-up-Comedians hätte das Duo Känzig/von Graffenried noch ewig weitermachen können. Mindestens 100 Jahre.
Aber der Stadtpräsident war ja noch bei einem anderen Jahrhundertereignis gefragt – an der Kälte beim einzigen Dorfbrunnen der Stadt in Bümpliz. Um ihn versammelten sich ein paar Dutzend geladene Gäste, darunter die Stadtregierung in corpore mit Ausnahme der erkrankten Ursula Wyss.
Ein Jahrhundert war es am Sonntag her, dass der Grosse Rat der Fusion des unter Finanzproblemen ächzenden Bauerndorfs Bümpliz mit der Stadt Bern den Segen gab. Nicht dass sich die Stadt 1919 wahnsinnig über Bümpliz gefreut hätte. Liebe war es nicht.
«Bümpliz forever», raunt aber jetzt 100 Jahre später Alec von Graffenried ins Mikrofon, als wäre er immer noch entfesselt von der Lebensfreude seiner 100-jährigen Ex-Lehrerin: «Bümpliz ist nicht nur ein Teil von Bern geworden, sondern Bern auch ein Teil von Bümpliz.»

Einen Stadtteil mit einem so eigenständigen Charakter zu haben, tue der Stadt Bern gut, sagt von Graffenried: «In Bümpliz ist oft mehr möglich als an anderen Orten der Stadt Bern.» Love, Peace, Bümpliz.
Dass es Bern vor 100 Jahren nicht geschafft habe, auch mit Ittigen, Ostermundigen und Bremgarten zu fusionieren, betrachte er «als eine verpasste Chance, ja sogar als einen historischen Fehler».
«Bümpliz ist nicht nur ein Teil von Bern geworden, sondern Bern auch ein Teil von Bümpliz.»
Die Region Bern, so von Graffenried, hätte sich erfolgreicher entwickelt, wenn «die Stadt vor 100 Jahren den Gemeinden nicht schnöde die Türe zugeschlagen hätte». Die heutige, neue Fusionsdiskussion vom Tisch zu wischen, weil es uns ja gut gehe, hält von Graffenried für falsch. Es sei eine historische Chance.
Wie Bümpliz zeigt. Das multikulturelle Bümpliz ist für den Berner Stadtpräsidenten Dorf, Stadt, Welt. Zufluchtsort und Heimat. Urbaner Innovator und grüne Oase. Alles.
Im Roman «Hundert Jahre Einsamkeit» beschrieb der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez das Dorf Macondo, das abgeschnitten von der Welt im Urwald liegt und in dem doch die ganze Welt stattfindet: Wahnsinn, Genialität, Leidenschaft, Leben, Tod. Und, genau, auch Liebe. In Bern und Bümpliz sind es 100 Jahre Zweisamkeit.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch